GfM2012 Programm
Die Jahrestagung 2012 der Gesellschaft
für Medienwissenschaft setzt die Frankfurter Traditionen der philosophischen
Reflexion und der Finanzwirtschaft dialektisch zu einander in Beziehung und
erkundet das Thema „Spekulation“.
Dass etwas bloße Spekulation sei, meint
in der Regel, dass einer Aussage die empirische oder rationale Grundlage fehlt.
Dem Klatsch und dem Gerücht verwandt, steht sie unter dem Verdacht der
Transgression und der Halbwahrheit. Als Sprech- und Darstellungsregister ist
die Spekulation zugleich ein Modus des Populären und ein konstitutives Medium
moderner Wissensgesellschaften.
Wer spekuliert, ist ferner jemand, der
mit Finanztransaktionen Geld verdient, ohne wirklich zu arbeiten. Im Zeichen
der fortschreitenden Integration globaler Märkte ist die Finanzmarktspekulation
zum neuen „faszinosum tremendum“ der Kapitalismuskritik geworden und hat dieser
zugleich eine Wendung ins Medienanalytische gegeben.
Andererseits ist die „speculatio“, der
Rundblick und die Spiegelung im Sinne einer Gesamtsicht der Welt, die
lateinische Übersetzung der griechischen „theoria“. Spekulation als kritische
Gesamtschau und als Denken von und in Spiegelungen gehört denn auch zu den
Grundfiguren der Medien- und Kulturtheorie.
Die Jahrestagung der GfM lässt sich auf
die Spekulation in all ihren Formen ein und geht ihrem schlechten Ruf ebenso
auf den Grund wie ihren Risiken und Potentialen. Die Tagung fragt nach den
Medien der Spekulation, nach der Spekulation der Medien und nach der
Spekulation als Verfahren und Versprechen der Medienwissenschaft.
Die Jahrestagung in Frankfurt/Main wird von der Goethe-Universität
Frankfurt, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft unter
Beteiligung der Hochschule für Gestaltung, Offenbach ausgerichtet.
Mi / 03. Oktober 2012
ab 17:00 Registration
Studierendenhaus, Campus Bockenheim, Festsaal Foyer, 1. Stock
Studierendenhaus, Campus Bockenheim, Festsaal Foyer, 1. Stock
18:15
Begrüßung
Studierendenhaus, Festsaal, 1. Stock
18:45
Keynote
Studierendenhaus, Festsaal, 1. Stock
Bishnupriya
Ghosh/Bhaskar Sarkar (Santa
Barbara): Speculative
Globalities: Southern Emergences
20:15 GfM Best
Publication Award Gender&Medien
Studierendenhaus, Festsaal, 1. Stock
Studierendenhaus, Festsaal, 1. Stock
20:30 Eröffnungsempfang
mit Filmvorführung
DIE BÖRSE (Hans Richter, 1939, CH)
Studierendenhaus, Festsaal
Studierendenhaus, Festsaal
Do / 04. Oktober 2012
ab 08:30 Registration
HSZ, Campus Westend, Foyer, 3. Stock
HSZ, Campus Westend, Foyer, 3. Stock
1
// 09:00 - 11:00 Panels
1.1 Reziproke Spekulationen zwischen
Produktion und Rezeption
HZ11
Moderation:
Johannes Stier
Tanja
Weber (Köln): Spekulationen vom und über den Fernsehzuschauer
Abstract:
Kein anderer Rezipient ist so großen Spekulationen bezüglich
seiner Erwartungen ausgesetzt wie der Fernsehzuschauer, der mit einer
potenzierten Erwartungsspirale zurechtkommen muss. Schon seine eigenen
Erwartungen an das Programm unterliegen ständig wechselnden und zum Teil widersprüchlichen
Rezeptionsmodi und ‐launen, wie
instrumenteller Mediengebrauch und habitueller Umgang mit dem Medium, mood management, Genreerwartungen,
partielle und geballte Aufmerksamkeit. Darüber hinaus muss sie/er sich außerdem
den Spekulationen der Produzenten stellen, die zu verstehen sind als eine
Spezialistengruppe, die das Programm produziert und sendet. Denn die
Produzenten entwickeln Erwartungen zweiter Ordnung – sie spekulieren darauf,
was der Zuschauer sehen möchte (eine
Sicht, der den Rezipienten als informierten Mediennutzer definiert), was er
sehen sollte (man könnte dies als den
öffentlich‐rechtlichen Erziehungsansatz bezeichnen), was
er nicht sehen sollte (hier ist der
Rezipient das Opfer, das es zu beschützen gilt), was er auf keinen Fall sehen sollte (und das daher
zensiert wird) und natürlich, dass er
sehen sollte (denn der Zuschauer ist immer der Konsument). Diese sich
überlagernden und sich zum Teil widersprechenden Spekulationen der Produzenten
hinsichtlich der Erwartungen der Zuschauer werden mit Luhmann Erwartungserwartungen
genannt. Die Erwartungserwartungen verhindern im deutschen Fernsehen
Innovationen und fördern Imitationen, so die These. Oder anders formuliert: In
diesem System der Erwartungserwartungen wird auf Imitation gesetzt, um nicht zu
hohe Fehlspekulationen verbuchen zu müssen. Denn die Spekulationen werden noch
weiter potenziert: Der implizierte Zuschauer ist nicht der Zuschauer der
Erwartungserwartung, sondern entspricht den Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen
Spezialistengruppe und deren Spekulationen über den Zuschauer. Damit befinden
sich die Produzenten in einem spekulativen Dilemma.
Peter
Scheinpflug (Köln): Intention/Konvention/Rezeption.
Spekulationen in Genre-Theorie und Genre-Geschichtsschreibung
Abstract:
Jede Theorie, die sich mit der Produktion und Rezeption von
Texten beschäftigt, ist immer zu einem bestimmten Grad auf Spekulationen
angewiesen. Weder erschließen sich dem Forscher alle Produktionsfaktoren noch
alle Rezeptionsmodi und Lesarten. Dem Detektiv ähnlich kann er nur seine
Spekulation als Deduktion maskieren. Gerade in der Genre Theorie und
Geschichtsschreibung werden Absichten von Regisseuren und Produzenten,
dominante Lesarten und vermeintliche Genre Konventionen aufgrund von Kohärenz
und Häufigkeit postuliert. Da eine ganzheitliche Beobachtung der Produktion und
Zirkulation von Texten generell unmöglich ist, ersetzt die Spekulation die Reflexion
über eigene Axiome und Aporien und stiftet kohärente Narrationen. Doch wie kann
mit dieser Aporie umgegangen werden, wenn dem Forscher letztlich nichts als
Texte und Texte über Texte zur Verfügung stehen? In der filmwissenschaftlichen
Genretheorie gab es in den letzten zwei Dekaden darauf zwei Antworten: die
intensive Textanalyse, die jeder textuellen Verhandlung von Genres im Detail
einzelner Texte nachgeht, und die kritische Diskursanalyse, die in Diskursen
über Filme Genre Definitionen dekonstruktiv betrachtet. Beide Ansätze drifteten
zunehmend auseinander und verloren das aus dem Auge, was gemeinhin als Genre
gilt: Textgruppen und deren Gemeinsamkeiten. Führt man diese beiden Ansätze
jedoch zusammen und lässt Texte und Diskurse sich gegenseitig perspektivieren,
so können textuelle Strategien und Muster beobachtet werden, die bestimmte Modi
ihrer Theoretisierung und Historisierung textuell implizieren oder gar
privilegieren. Dieser Fokus liegt nicht auf einzelnen Filmen oder Konventionen,
sondern auf trans‐generischen Textstrategien der Genre‐Verhandlung
wie setpieces oder parodistische Modi
der Genre‐ (Trans‐)Formation; dieser
Ansatz erlaubt eine Genre Theorie, die Spekulationen über Intentionen, Konventionen
und Rezeption produktiv gegenliest und die Aporien der theoretischen Spekulation
umgeht.
Thomas
Wortmann (Köln): Der Vorhang zu und alle Fragen offen.
Spekulation und Medienkonkurrenz
in Joe Wrights ATONEMENT
Abstract:
Spekulation, so liest man in der Ankündigung zur
diesjährigen Tagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft,
könne als Medium der Zukunftsoffenheit par
excellence gelten, da in ihr die Ungewissheit über das, was war, und das,
was sein wird, narrative Gestalt erhalte. In diesem Sinne handelt es sich bei
Joe Wrights ATONEMENT (GB, 2007), der Adaption des gleichnamigen Erfolgsromans
von Ian McEwan aus dem Jahr 2001, um einen Film, der den Konnex von Narration und
Spekulation in Szene setzt. Durch sein Spiel mit rekursiven Schleifen von
Narrativen und vermeintlichen Metanarrativen gleicht der Film einem Experiment
mit den Erwartungshaltungen der Zuschauerinnen und Zuschauer, mit deren
Spekulationen über die Hierarchie und die Ambivalenzen von happy endings, um sie schließlich mit Ungewissheit zu
konfrontieren: In einem Epilog, der als Fernsehinterview inszeniert wird, gibt
sich die Protagonistin des Films als Autorin der Geschichte zu erkennen,
revidiert die vorher präsentierte Schlusskonfiguration, durchkreuzt das happy end und markiert es als Fiktion.
Problematisch wird damit aber der Status alles bisher Erzählten. ATONEMENT klärt
schließlich nicht auf, was tatsächlich war, sondern stellt verschiedene
Narrative nebeneinander und fordert den Rezipienten zur Spekulation über das
Gesehene auf. Eingeschrieben ist diesem Spiel aber – und hierin unterscheidet
sich der Film von seinem Prätext, dem Roman McEwans – die Konkurrenz
verschiedener Medien (Text, Film, Theater und Fernsehen) um den Anspruch auf Wahrheit.
In den Blick geraten in Wrights Literaturverfilmung die spezifischen
Mechanismen zur Her und Darstellung von Authentizität im jeweiligen medialen
Umfeld.
Simone
Natale (Köln): Die Zukunft der Medien, die Medien der
Zukunft. Historische Betrachtung der fiktionalen Spekulationen über zukünftige
Medien und Technologien
Abstract:
Im Jahr 1930 veröffentlichte die
amerikanische Zeitschrift Popular
Mechanics einen Artikel unter dem Titel „Prophets and their Prophecies“.
Aber die Propheten, auf die die Zeitschrift sich berief, waren nicht religiöse
Propheten oder spiritistische Hellseher, sondern weltliche Denker, die Voraussagen
über die Zukunft der Medien machten. Nach Auskunft des Artikels hatten
Schriftsteller, Ingenieure und Wissenschaftler viele der zeitgenössischen
Technologien vorhergesagt, lange bevor sie erfunden worden waren. Pointiert
schlussfolgerte der Autor des Artikels mit einem Zitat von Jules Verne: „Man
can achieve what man can imagine“. Der Vortrag rekonstruiert die Funktionen von
Zukunftsspekulationen über die möglichen Fortentwicklungen von Medien und
Medientechniken in der Geschichte der Medien. Es wird argumentiert werden, dass
die Entwicklung und die Etablierung neuer Medien häufig erst durch Spekulationen
über die Technologie von morgen ermöglicht, befördert und vorbereitet werden.
Wie anhand markanter Beispiele aus der Mediengeschichte gezeigt wird, können
vermeintlich fantastisch anmutende, spekulative Annahmen und Voraussagen über
die Zukunft der Medien als produktive Spekulationen verstanden werden, die
nicht allein als Inspiration und Motivation für Ingenieure und Wissenschaftler
fungieren können, sondern auch die Akzeptanz und Aneignung neuer Medien und Technologien
in der Gesellschaft maßgeblich vorbereiten.
1.2
Philosophie und Filmtheorie: Horizonte der Spekulation
HZ12
Moderation: Vinzenz Hediger
Martin
Seel (Frankfurt/Main)
Gertrud
Koch (Berlin)
Jochen
Schuff (Frankfurt/Main)
1.3
Wissen, Resonanzen, Formationen
HZ13
Moderation: Bettina Schlüter
Bettina
Schlüter (Bonn): Bruchzonen der Spekulation in der
Wissensformation des 17. Jahrhunderts
Abstract:
„Da alle Bilder und species
intellectuales aufgefangen und behalten werden / so bald sie der Verstand von
den sinnbaren Dingen abgezogen / so befiehlt er’s der Memori / als dem
Schatzkasten / damit er sie zum speculiren gebrauchen möchte.“ (Kircher, S.
353) Ausgehend von der hier artikulierten Vorstellung möchte sich der Vortrag
dem Begriff der Spekulation im Kontext der Wissensformation des 17.
Jahrhunderts zuwenden – genauer: er möchte ihn an einer historischen Grenze zu
bestimmen suchen, an der er gerade noch, und keineswegs ungebrochen als Fluchtpunkt
mehrfach gestaffelter synthetisierender Bewegungen auf das Ganze einer
intelligibel gestalteten Welt zu zielen vermag. Die integrierende Kraft der
Spekulation basiert auf einem (pythagoreisch fundierten) Abstraktionsprinzip,
das Analogien auf umfassende Weise organisiert und daher in der Musik (als
mathematischer Disziplin) ein homolog strukturiertes Medium seiner
kombinatorischen Basisoperationen findet, so als ob „die ganze Natur / als
Gottes Kunst in allen Welt Verzichtungen / auf die musicalische proportiones
gesehen habe“ (Kircher, S. 254) Die Entfaltung dieses Zusammenhangs – seine
Implikationen für das Verständnis von Technik im Sinne einer (auch für den
Jesuiten Kircher) legitimen Aneignung von Prinzipien aus der Natur, die Serie
von Transformationen in den Übergängen von Welt, Wahrnehmung, Gedächtnis und
Spekulation sowie die Spielräume einer sinnlichen Repräsentation von
‚theoria’(‚musica’ als ‚numerus sonorus’) – sollen zunächst im Mittelpunkt des
Beitrages stehen. Dieser eingespielte und durch die Jesuiten als „strategisch
operierendem Medienunternehmen“ (Zielinsky, S.139) perfektionierte Zirkel
zwischen einer fortschreitenden Akkumulation „sinnbarer Dinge“ und ihrer
homogenisierender Integration durch die Kraft der Spekulation wird jedoch zunehmend
konfrontiert mit einer internen Ausdifferenzierung einzelner Wissensgebiete. Die
massiven Umbrüche in der Wissensformation des späten 16. und 17. Jahrhunderts
verdanken sich – so die These der weiteren Ausführungen – dabei weniger der
Konfrontation mit einer expansiv sich erweiternden ‚Neuen Welt’, denn einer
Redefinition von Basisoperationen der Spekulation und der mit ihr eng
assoziierten Medien (wie bei der Transformation der Musik von einer mathematischen
in eine rhetorische Disziplin). In Folge dieser Veränderungsprozesse gewinnt der
Begriff der Spekulation dann jenes Maß an Kontingenz, das für sein modernes
Verständnis unabdingbar ist.
Melanie
Letschnig (Wien): Zur Attraktion der Spekulation – Eine
Diskursgeschichte der Explosion
Abstract:
Das zerrüttende Potential der Explosion charakterisiert
nicht nur ihre Form, sondern auch die theoretische Auseinandersetzung mit ihr.
Polarisierung steht hoch im Kurs. Betrachtet man beispielsweise den Stellenwert
der Explosion im filmwissenschaftlichen Diskurs über das Action Movie Genre,
offenbart sich ihr polyphoner Reiz: einerseits wird der Explosion als Erkenntnisinstrument
(in Bezug auf filmische Strukturen, Schaulust und Rezeption) Bedeutung
beigemessen, andererseits wird ihr die lautstarke und bedingt gezielt
einsetzbare Unfassbarkeit vorgeworfen, ihre Spektakularität verteufelt, weil
sie die Narration zum Feigenblatt degradiere. Damit zeitigt die Furiosität der
Explosion hitzige Debatten um die Ästhetik von Vergewisserung und Enttäuschung,
die nicht erst mit dem Kino einsetzen. Als im 17. Jahrhundert Wissen in Form
von Akademien institutionalisiert wird, gerät die Explosion zum Zankapfel. In
Opposition zueinander stehen die Auffassung der Explosion als Beiträgerin zu
einer “speculative knowledge“ (so der Historiker Simon Werrett), die als analogisches
Phänomen Erkenntnisse über die Vorgänge in der Natur (Meteor!) hervorbringen
soll und mit ihrer Attraktivität gleichzeitig als Bewußtseinsmaßnahme das Interesse
der Menschen an der Wissenschaft anheizt. Andererseits wird eben genau das Spektakel
der Explosion zum Vorwurf gemacht – als Eye Candy ohne Erkenntniswert verhält sie
sich zu unberechenbar, um sich gänzlich in den Dienst der Wissenschaft stellen
zu lassen. Die Positionen, die der philosophische Diskurs über die Explosion
erzeugt, übertragen sich auf die Beurteilung des Stellenwerts der Explosion als
Spektakel in Festkulturen europäischer Höfe. Hier wird mit prunkvollen
Feuerwerken Politik gemacht, und je nachdem, welchen gesellschaftlichen
Hintergrund und religiöse Konfession die HerrscherInnen und das Publikum
vorzuweisen haben, erscheint der illuminierende Bombast als ästhetischer und ökonomischer
Reizfaktor legitim oder verwerflich, auf jeden Fall ist die Explosion Mittel
zur Demonstration und Manifestation von Macht. Anhand des Einsatzes der
Explosion als ästhetischem Instrument in Wissenschaft, Festkultur und Kino soll
untersucht werden, wie in der Eingliederung der Explosion als dienstbarem Phänomen
zwar die Wirkstätten wechseln, nicht aber die Diskurse, die der Explosion das Spektakuläre
und Spekulative hoch anrechnen bzw. vorwerfen.
Julia
Rommel (Offenbach): Kommunikationstechnologien. Die
Informationslücke als Anlass zur Spekulation eines gemeinsamen Zwischenorts
Abstract:
Distanz überwindende Kommunikation
mittels ubiquitärer Technologien weist prinzipiell Informationslücken auf.
Bestimmte Kommunikationselemente können aufgrund technologischer Beschränkungen
vom Kommunikationspartner nicht „gelesen“ werden.
Die Informationslücke eröffnet einen
Spielraum für Interpretation und Imagination. Ort und Situation des Anderen
werden zum Objekt der Spekulation. Diese Spekulation bezieht sich jedoch nicht
nur auf die eigene Unkenntnis über die Situation des Anderen, sondern auch auf
das Wissen über die Unwissenheit des anderen. Die Informationslücke schafft
somit die Möglichkeit der Inszenierung, wodurch bewusst eine Asymmetrie
ursprünglich ebenbürtiger Kommunikationspartner hergestellt werden kann.
Aufgabe der Telekommunikation ist es,
Nähe herzustellen. Tatsächlich nutzen wir sie jedoch als Medium zur
Determinierung von Distanzen. Distanz ist dabei nicht nur eine Frage der
Raumüberwindung, sondern vor allem auch der Differenz unterschiedlicher Ausgangssituationen
zweier Personen, die beispielsweise mit Beginn eines Telefonats abrupt in
Beziehung zueinander gesetzt werden müssen.
Merleau-Ponty definiert
„Zwischenleiblichkeit” als eine durch die synergetische Produktion von Inhalten
heraus resultierende Verschränkung von Eigenleib und Fremdleib.
Telekommunikation erweitert diese
Zwischenleiblichkeit durch einen räumlichen Aspekt – aufgrund der Abwesenheit
des anderen Leibs arrangieren die Kommunizierenden einen Zwischenort
gemeinsamer Präsenz. Die Kommunizierenden kombinieren jeweils Elemente ihrer
Vorstellung von dem Ort und der Situation des Anderen mit denen der eigene
Situation. Das Ziel einer gemeinsamem dritten Präsenz an einem kooperativ
erarbeiten Zwischenort wird also auf Basis spekulativer Elementen errichtet.
Sabine
Breitsameter (Darmstadt/Berlin): Hörgestalten als
Denkfiguren Soundscape und „Acoustic Space” als spekulative Konstrukte hin zu
einer Medienökologie
Abstract:
Der Begriff “Soundscape” kann als einer der wichtigsten
Begriffe und Paradigmen im Bereich der Soundstudies gelten. Geprägt und
erarbeitet wurde er Ende der 1960er Jahre von dem kanadischen Forscher und
Komponisten R. Murray Schafer, diskurswirksam wurde er in Nordamerika im
Verlauf der 1970er Jahre, in Europa Ende der 1980er Jahre. Der Begriff
beschreibt den Hörer als stets von Schall umgeben, die auditive Wahrnehmung als
taktile und hörerzentrierte Rundum-Erfahrung, damit als umweltlich im
buchstäblichen Sinne des Wortes. Als Hörgestalt wendet sich der Begriff gegen
das frontale, selektive Hören, zu welchem die Hörenden durch Medien,
Konzertsäle und Schulpädagogik sozialisiert würden und plädiert für ein
umfassendes, “ganzheitliches” Hören. Als Denkfigur bot der Begriff einen Zugang
zu den seinerzeit aufkommenden situativen, installativen und
spartenübergreifenden auditiven Kunstformen (Installationen, sog. “Klangkunst”
u.a.) und bereitete ihnen durch seine diskursives Potential gleichzeitig auch
den Weg. Dies gilt ebenso für seine Auswirkungen auf die nachhaltige Erweiterung
des musikalischen Materialbegriffs , der nun die Geräusche des Alltags als
einen festen Bestandteil seines Kanons ansieht. sowie für die junge Disziplin
des Sounddesigns (da durch die Einbettung einzelner Hörerlebnisse in einen
Gesamtklang die Fragen von Notwendigkeit und Zuträglichkeit bestehender oder zu
entwerfender Hörereignisse adressiert werden). Zentral ist dabei aber sein im-
und expliziter kritischer und medienökologischer Ansatz, der sich bei Schafer
in seiner “Akustische Ökologie”, einer gesellschaftsverändernden
medienästhetischen Utopie konkretisiert. Schafers “Soundscape” knüpft in seinen
wesentlichen Aspekten (aber nicht ausschliesslich) an McLuhan und seine Idee
des “Acoustic Space” an. McLuhans Kritik an einer visuell dominierten Welt
mündete in einen neu gedachten Begriff vom Raum. Dieser soll sich von den
visuellen Wahrnehmungsparadigmen lösen und als zentrale Eigenschaften
Simultaneität und das dynamische, interaktive Zusammenwirken seiner Elemente
ebenso aufweisen wie die Unmöglichkeit für den Wahrnehmenden, einen “point of
view” einzunehmen. Dies resultiert bei McLuhan in eine Vorstellung des
akustischen Raums, die derjenigen Schafers sehr ähnelt. McLuhan baut diese
Vorstellung, um mit ihr einen Rahmen zu setzen, in welchem die neuartigen
Erfahrungsweisen der elektrischen Medien verstanden und in ihren Konsequenzen
und in ihren zukünftigen Auswirkungen für den Menschen beschrieben und
verstanden werden können. Indem der o.g. Vortrag beide Gedankengänge aufnimmt,
miteinander in Beziehung setzt und vergleicht, sollen die spekulativen
Ansatzpunkte beider Begriffe herausgearbeitet und untersucht werden, inwieweit
diese als notwendige Voraussetzung für die gesellschaftlichen Utopien beider
Autoren, Schafer und McLuhan, gelten können.
1.4
Grenzen der Spekulation, Grenzen der Medienwissenschaft
HZ14
Moderation: Friedrich Balke
Florian
Sprenger (Stanford, CA): Unmittelbarkeiten der Erfahrung
Abstract:
Thesen über die Eingriffe von Medien in die Wahrnehmung sind
spätestens seit Benjamins Kunstwerkaufsatz und seiner Behauptung, dass die
Organisation der Sinneswahrnehmung „nicht nur natürlich sondern auch
geschichtlich bedingt“ ist, in der Medienwissenschaft weit verbreitet. In einer
starken Formulierung lassen sich solche Thesen als Spekulation identifizieren,
deren medienwissenschaftliche Besonderheit darin besteht, dass sie auf einen
unmittelbaren Zugang zu Wahrnehmungen und ihre historische oder subjektive
Vergleichbarkeit rekurrieren. Diese Suggestion von Unmittelbarkeit
konterkariert ihre Intentionen. Und mit dieser Unmittelbarkeit begründen sie zugleich
die Grundlagen ihres spekulativen Vorgehens. Der Vortrag möchte solchen Thesen nachspüren
und sie philosophiehistorisch an grundlegende Fragen der Erkenntnistheorie und
der Skepsis rückbinden.
Till
A. Heilmann (University of Iowa): Die Frage nach dem
Digitalen
Abstract:
Das Digitale ist einer der wichtigsten
Gegenstände der Medienwissenschaft. Die Diskussion sowohl digitaler Medien als
auch des Begriffs der Digitalität geschieht üblicherweise unter Verwendung apparativ-technischer
Konzepte und Modelle, die der Mathematik, der Nachrichtentechnik und der Informatik
entstammen. Der Vortrag fragt nach den analytischen Grenzen solcher Konzepte
für medienkulturwissenschaftliche Untersuchungen und danach, ob jenseits des
gängigen Verständnisses digitaler Medien nicht ein spekulativer Zugang zur
Frage nach dem Digitalen möglich und nötig wäre.
Anna
Tuschling (Bochum): Die Grenzen des Naturerkennens als
Aufforderung zur Spekulation
Abstract:
Hirn- und Affektforschung erheben den
Anspruch, Bewusstseinsinhalte auf ihre materiellen und vor allem neuronalen
Bedingungen zurückführen zu können. Der Physiologe Emil du Bois-Reymond steckte
dagegen die Grenzen des Naturerkennens und sein Wissenschaftsparadigma mit dem
Ausruf ab: Ignorabimus – Wir werden es nicht wissen. Es bestehe eine bleibende
Kluft zwischen der Veränderung der Stoffe und der Lage von Atomen einerseits
sowie dem Erleben, Affekten und Bewusstsein andererseits. Du Bois-Reymond
verwahrte sich jedoch gegen die „Neigung zu ungezügelter Spekulation“, dabei
philosophische Verarbeitung mit wilder Spekulation gleichsetzend (Renate
Wahsner). Der Vortrag möchte erstens diejenigen theoretischen Positionen in der
Bewusstseinsforschung
heranziehen, die weiterhin auf der Erklärungslücke zwischen Gehirn und mentalen
Inhalten bestehen, diese aber zweitens gerade als Aufforderung zur medienwissenschaftlichen
Spekulation begreifen.
Friederich Balke
(Weimar):
Der spekulative Körper oder: wie man das „höchste Trugbild“ erzeugt
Abstract:
Friedrich Balke Dass Körper sprechen,
wissen wir seit langem. Der Philosoph, Literat, Geldtheoretiker und
Kulturhistoriker Pierre Klossowski ist von Gilles Deleuze dafür gelobt worden,
dass er in seinen Arbeiten immer wieder Körper auftauchen lässt, die zu Gesten
fähig sind, die das Gegenteil von dem zu verstehen geben, was sie anzeigen.
Solche Gesten entsprechen dem, was man in der Rhetorik „Solözismen“ nennt.
Z.B.: Ein Arm stößt einen Angreifer zurück, während der andere Arm wartet und
ihn zu empfangen scheint. Eine Hand stößt zurück, kann dies aber nur tun,
indem sie ihre Innenfläche zeigt. Der Vortrag soll anhand einiger Beispiele aus
Text- und Bildmedien Szenen eines spekulativen, vervielfachten oder
‚flektierten‘ Körpers analysieren, eines Körpers in der Schwebe, der mit seinen
eigenen Spiegelungen wetteifert und seinem Beobachter nicht nur
unterschiedliche, sondern entgegensetzte Bedeutungen zu lesen gibt. Gombrowicz‘
Roman Pornografie dient dabei als ein Modelltext, weil er eine fulminante
Systematik im Hinblick auf die Möglichkeiten, mit den Körpern und Affekten
anderer zu spekulieren, entfaltet, weil es ihm gelingt, ‚unschuldige Körper‘ in
Handlungssequenzen einzufügen, in die diese Körper niemals ‚freiwillig‘
eintreten würden. Insofern versteht sich der Vortrag auch als eine Exploration
der Nachtseiten der in der Medienwissenschaft seit einiger Zeit so beliebten
Dialektik von agency und patienthood.
1.5
I Want To Believe! Spekulative Erkenntnisprozesse in Populärkulturen
AG
Populärkultur und Medien
HZ15
Moderation:
Thomas Wilke
Marcus
S. Kleiner (Siegen): Frontierland! Spekulative
Grenzerfahrungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in der
US-amerikanischen Mystery-Serie „Supernatural“
Abstract:
DR. MARCUS S. KLEINER untersucht unter dem Titel Frontierland!
Spekulative Grenzerfahrungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in der
US-amerikanischen Mystery-Serie Supernatural wie im Kampf der beiden ästhetischen
Figuren Sam und Dean Winchester gegen Geister, Monster, Dämonen und
den Teufel, das Religiöse, Mystisch-Mythische und Säkulare aus der Perspektive
des Wunderbaren, Wundersamen, Wunderlichen und Übernatürlichen spekulativ
erschlossen, umgeordnet und verwandelt wird. Die Inszenierung der schlichten
Spannung zwischen einem nicht intervenierenden, abwesenden Gott (Gut)
sowie seiner Engel und einem intervenierenden, präsenten Teufel, inklusive
seiner dämonischen Helfer, ist hierbei nur scheinbar eine konventionelle
Handlungsstruktur. In Supernatural wird (reale) Gewissheit im Spiel von (irrationalen)
Gewissheiten aufgelöst, Gut und Böse von ihren vermeintlich eindeutigen
Wirklichkeitsorten entbunden. Was bleibt sind mediale und rezeptionelle
Spekulationen, die Produktion einer entbundenen Einbildungskraft, über die
Möglichkeiten dieser Gewissheiten und die Unmöglichkeit von Unmöglichkeiten.
Wissensproduktion und Erkenntnisprozesse bleiben spekulativ, das Übernatürliche
kann nicht verbindlichen an vermeintlich akzeptierten Realitätskriterien
gemessen, sondern nur durch eine spekulativ-spektakuläre Transgression temporär
verwunden werden. Erzeugt wird hierbei eine spekulative Urteilskraft des
Populären.
Marcus
Stiglegger (Siegen): Preacher Men. Mystizismus und
Neo-Mythologie im britischen Gothic-Rock
Abstract:
Anlässlich des Rocksongs „Riders on the Storm“ bezeichnete
ein Musikjournalist die geheimnisvolle Rockmusik der Doors als Gothic-Rock,
womit die Präsenz von Motiven der klassischen literarischen Gothic-Fiction in
der Popmusik beschrieben werden sollte. Und obwohl Nico, David Bowie,
Brian Eno oder Joy Division an diese mystischen Impulse
anschlossen, wurde erst mit der Hitsingle „Bela Lugosi’s Dead“ der britischen
Band Bauhaus ein eigenes Genre des Gothic-Rock begründet: mystische
Lyrics, verhallter, finsterer Gesang und schräge Gitarren prägten von da an den
Sound von Bands wie The Sisters of Mercy, The Cult und Siouxsie
and the Banshees. PD DR. MARCUS
STIGLEGGER beschäftigt sich in Preacher Men. Mystizismus und
Neo-Mythologie im britischen Gothic-Rock damit, wie der britische Gothic-Rock
zum Mystizismus der Popmusik der 1980er Jahre wurde und im eigenwilligen
mythologischen Universum der Fields of the Nephilim aus Stevenage
kulminierte, deren Sänger Carl McCoy noch heute als „Preacherman of the
Apocalypse“ unvergleichliche Zeremonien auf der Bühne entfesselt. An diesem Beispiel
soll analysiert werden, wie es eine Rockband schaffen kann, durch private Mythologie,
konsequenten Mystizismus apokalyptische Spiritualität in die Popkultur,
verstanden als spekulatives Reflexionsmedium mit einer eigensinnigen ästhetischen
Signatur, zu pflanzen, die inzwischen seit 1986 wächst und gedeiht. In den
vielschichtigen Ausformungen der Gothic-Musik-Genres hat sich heute ein Popmystizismus
etabliert, der an vergleichbare Bedürfnisse appelliert wie Mystery- TV-Serien
und Fantasyfilme – die spekulativen Reflexionspotentiale dieser Formate und die
unterschiedlichen Formen der Medialisierungen des Spekulativen werden abschließend
mit denen des Gothic-Rock verglichen.
Ramón
Reichert (Wien): Mystery-Parodien auf YouTube. Zur
Amateurkritik des Populär-Spekulativen in Medienkulturen
Abstract:
PROF. DR. RAMÓN REICHERT (UNIVERSITÄT WIEN) untersucht unter
dem Titel Mystery-Parodien auf YouTube. Zur Amateurkritik des
Populär-Spekulativen in Medienkulturen die bedeutungssubversiven
Medienpraktiken jugendlicher Fankulturen auf dem Online-Videoportal YouTube. In
ihren hypertextuellen Verfahren der Kontextmodifizierung eröffnen Jugendliche
vermittels ihrer Video- Mashup-, Empfehlungs- und Kommentarnetze prozessual
orientierte „Hate“- Diskurse von SF- und Mystery-Formaten, die auf eine
medienreflexive Neubewertung des Ausgangsmaterials abzielen. Mit ihren Mystery-Parodien
(Akte X, Supernatural, Lost, X-Factor u.v.m.),
gerade als spezifische Form der kritischen Auseinandersetzung mit
unterschiedlichen Inszenierungen und Medialisierungen des Spekulativen, sorgen
sie nicht nur dafür, dass hegemoniale Kino- und Fernsehbilder permanent
diskursivierbar und ausverhandelbar bleiben, sondern sie stellen auch die One-to-Many-Kommunikation
der Medienkanäle Kino und Fernsehen als Dispositiv der populärkulturellen
Regulation in Frage. Damit entstehen instabile Bedeutungsnetze, die von Befürwortern
und Gegnern gleichermaßen hervorgebracht werden. Diese kulturelle Praxis hat
wesentlichen Einfluss auf die Transformationen medienkultureller Diskurse, die
um das Community-Building kreisen und sich auf Fan-/Hate-Auseinandersetzungen
und positive oder negative Distinktionsmarker konzentrieren. Die Kritik des Spekulativen
und die daraus hervorgehenden neuen bzw. alternativen Formen des Spekulativen
werden abschließend vergleichend mit der Bedeutung des Spekulativen in den
anderen Beispielen, die in den vorausgehenden Vorträgen diskutiert werden,
verglichen, damit das Panel eine aufeinander aufbauende und sich aufeinander
beziehende Rekonstruktion der medialen Wissensproduktion zum Spekulativen
präsentiert.
1.6
Szenarien der Krise
HZ10
Moderation: Florian Hoof
Matthias
Grotkopp (Berlin, Paris): Das Anthropozän und die Poetik des
Verspekulierens
Abstract:
Wie spekuliert man darüber, ob die Menschheit sich
verspekuliert haben wird? Der Ökumentarpropagandafilm THE AGE OF STUPID (UK
2009) behandelt die Gegenwart als ein Archiv, als eine Ansammlung von
Zeugnissen, denen ein spektakuläres Scheitern der Menschheit an den Herausforderungen
des globalen Klimawandels eingeschrieben ist. Er zeigt uns beim Spekulieren, beim
Verspekulieren und trägt doch in jedes Bild ein spekulatives kontrafaktisches
Denken ein: Wird es so gekommen sein müssen oder wird es auch anders gekommen
sein können? – oder so ähnlich. In diesem Sinne positioniert sich der Film
sowohl jenseits der problematischen audiovisuellen Evidenz des Messbaren als
auch jenseits einer Redefinition der Naturkatastrophe als Katastrophe in Permanenz.
Das Anthropozän ernst zu nehmen heißt, Mensch, Technik,
Natur und Geschichte grundsätzlich anders zu denken, eine spekulative
Re-Animation des Anthropozentrismus als Motor der Hybridisierung von Biosphäre,
Technosphäre und Noosphäre (Sloterdijk). War die Sintflut noch eine Sache
zwischen Gott und Mensch und ersetzte das Erdbeben von Lissabon 1755 dies durch
die sinnund geschichtsfreie Naturkatastrophe, so sind heute Wirbelstürme,
Dürren etc. vieles, aber ganz gewiss nicht mehr geschichtsfrei. THE AGE OF
STUPID löst sich radikaler als alle seine Genregenossen von den raum-zeitlichen
Dimensionen der physikalisch-chemischen Prozesse und ihrer dualen Realisierung
in singulären Ereignissen oder graduellen Verschiebungen klimatischer und biosphärischer
Parameter: Es geht ihm nicht um Beweise und Argumente sondern um die Erfahrung eines
offenen Möglichkeitsraums des Handels – und damit des möglichen Scheiterns –
der sich nur als ein historischer Raum fassen lässt.
Welche Verbindung stellt der Film nun zwischen dem
Widerspruch von Handlungszwang und offenen Handlungsweisen her? Und was ist das
für eine rhetorische Strategie, die über das spekulative Scheitern ihrer eigenen
Selbstauffassung operiert?
Tullio
Richter-Hansen (Frankfurt/Main): WHAT IF? Spekulation
über das (Un-)Vorstellbare: 9/11 und der
Katastrophenfilm
Abstract:
Der Katastrophenfilm fungiert im Wesentlichen als
Spekulation über künftige Katastrophen. Zwar bedient er sich unweigerlich
durchaus bekannter Phänomene – wie etwa jüngst in der Desaster-Kompilation 2012
(2009) –, spekuliert aber zentral über Ungeheuerliches, das es so noch nicht
gegeben hat. Der konstitutiv spekulative Charakter des Katastrophenkinos lässt
sich umgekehrt daran ablesen, dass Verfilmungen historischer Unglücksfälle
zumeist nicht dem Genre zugeordnet werden – etwa WORLD TRADE CENTER und UNITED
93 (beide 2006), die die terroristischen Anschläge des 11. Septembers als
Spielfilme erzählen. Diese „Mutter aller Ereignisse“ (Baudrillard) führt zurück
zu einer Dekonstruktion der Wechselwirkungen zwischen der filmischen und der
realen 9/11-Katastrophe.
Rasmus
Greiner (Marburg): Die Eskalation des
Kalten Krieges als fiktionales Medienereignis. Zur Geschichte und Ästhetik
einer filmischen Schreckensvision
Abstract:
Der Kalte Krieg – bereits die Begrifflichkeit dieser
historischen Konstellation suggeriert, was glücklicherweise niemals eingetreten
ist: Die unbegrenzte kriegerische Konfrontation der damaligen Supermächte USA
und Sowjetunion. Die Auseinandersetzung, die in Wirklichkeit der Wettstreit
zweier grundlegend verschiedener Wirtschafts- und Staatssysteme war, wurde so
nachhaltig zu einem Krieg umgedeutet, dass der tatsächliche Waffengang wie in
einem Drehbuch festgelegt schien. Zwar stand die Welt tatsächlich mehr als
einmal – genannt seien nur die Kuba-Krise und der NATO-Doppelbeschluss – kurz
vor der nuklearen Verwüstung, das Bewusstsein hierfür wurde jedoch zum größten
Teil durch die mediale Inszenierung dieser realen politischen Konflikte
erzeugt. Besonders in den westlichen Medien wurde das worstcase- Szenario eines
Dritten Weltkrieges derart häufig thematisiert und derart detailliert ausgestaltet,
dass es als ein Medienereignis wahrgenommen wurde, das die Ungeheuerlichkeit der
realhistorischen Referenz Hiroshima auf ein globales Szenario ausdehnte. Die
medial prophezeite Eskalation des Kalten Krieges entwickelte sich vor allem
aufgrund wirkungsvoller filmischer Vorausdeutungen zu einer Konstante des
Schreckens, einer möglichen Realität, die die Macht besaß, politische Diskurse
zu entfachen und Entscheidungen internationaler Tragweite zu beeinflussen.
John
David Seidler (Rostock): The Internet is for
Conspiracy: Spekulative Erzähltechniken digitaler Verschwörungstheorie
Abstract:
Exemplarisch für das gesamte Dilemma
postmoderner Wissensproduktion ist die spekulative Verschwörungstheorie ein
typisches Begleitphänomen der Mediengesellschaft. Ute Caumanns und Mathias
Niendorf (2001) resümieren in ihrem Standardwerk zu Verschwörungstheorien dennoch,
„dass für die Konjunktur von Verschwörungstheorien die jeweiligen Kommunikationsstrukturen
eine untergeordnete Rolle spielen.“ Verdichtete Kommunikationsverhältnisse
würden zwar eine Verbreitung von Verschwörungstheorien begünstigen, sie seien
aber nicht Voraussetzung für Produktion und Rezeption derselbigen. Dieser These
widerspricht der vorliegende Beitrag anhand einer Analyse der populären Textsorten
spekulativer Verschwörungstheorie rund um den 11. September 2001. Der konstitutive
Beitrag digitaler Medien zu Produktion, Distribution und Rezeption dieser Spekulationen
wird erörtert. Als Fluchtpunkt eines vermeintlich folgenlosen
Manipulationsverdachts (Niklas Luhmann, 1995) oder gar des medienontologischen
Verdachts per se (Boris Groys, 2000) verortet sich die Verschwörungstheorie
seit jeher selbst explizit als antagonistische Alternative zu einem medialen
Wissen des Mainstreams. Blieb die Reflexion der eigenen Medialität
innerhalb der Verschwörungstheorien des 20. Jahrhunderts zunächst aus, bietet
sich mit der Etablierung des Internets zum ersten Mal die Projektionsfläche
eines ultimativen Supermediums der Gegenverschwörung. Während die
Informations- und Bilderfluten einer ekstatischen Medienindustrie am 11. September
2001 die ideale Angriffsfläche klassischer Verdachtsreflexe liefern, überhöht
die Verschwörungstheorie nun in extremistischer Rhetorik das Internet zum
überlegenen Instrument detektivischer Laienrecherche. „Boycott the news
networks. Use and protect the Internet“ wird zum paradigmatischen
Schlachtruf der Verschwörungsindustrie. Neben diesem selbstreflexiven Turn ist
vor allem die massenweise Produktion vermeintlicher Evidenzen und Gewissheiten
Kennzeichen der Online-Spekulationen. Der Beitrag fokussiert die wesentlichen Online-Textsorten
zur 9/11-Verschwörungstheorie im Hinblick auf die Funktion einer von neuen
Medien getragenen spekulativ-steganographischen Medienlektüre, die den
Betrachter vom Modus des Verdachts in den Stand eines mediengläubigen
Entdeckers versetzt.
1.7
Spekulative Figuren der Kultur und
Kinogeschichte
Elvis, Reinhold und der Yeti
NG 1.741a
Moderation: Christiane Voss
Lena
Eckert, Silke Martin (Weimar): Das Verschwinden des
Mannes in der Landschaft – Spekulationen über die Bergsteigerlegende Reinhold
Messner in NANGA PARBAT
Abstract:
„Der Berg ist ein ganzer Mann“ ist in einem der wenigen
Romane von Frauen über das Bergsteigen zu lesen (Czurda 1978).
Bergsteigermythen sind als sexistische und koloniale Diskurse bekannt, in denen
vor allem weiße Männer, meistens zusammen, einen hohen Berg besiegen. Reinhold
Messner, der an seinem eigenen Mythos entscheidend mitgeschrieben hat, hat auch
an dem Film NANGA PARBAT (D 2010, Joseph Vilsmaier) mitgearbeitet. In diesem
Vortrag soll der Perpetuierung der Männlichkeitsmythen im Bergsteigen
nachgegangen werden, aber auch ihrer gleichzeitigen Zersplitterung. In der
widersprüchlichen Ermächtigung des Gipfels vermischen sich hypermaskuline,
körperliche und homoerotische Aspekte und führen zu einer Persiflierung der
heroischen, männlichen Identität und Physis des Bergsteigers Messner. Die
Zerlegung des Bergsteigermythos Messner findet dabei nicht nur auf narrativer,
sondern auch und gerade auf ästhetischer Ebene des Films statt. Denn die
filmische Berglandschaft spielt sich ‐ jenseits ihrer Funktion
als Milieu und Schauplatz dramatischer Handlungen – durch spektakuläre
Landschaftsaufnahmen in den Vordergrund, etwa durch rasende Kamerafahrten um
Berggipfel, abruptes Stehenbleiben vor Schluchten oder halluzinogenen Bildern
von Schneelandschaften. Indem die entpersonalisierten Landschaftsaufnahmen, die
jenseits einer figuren‐ oder
konfliktzentrierten Darstellung operieren, an ausgewählten Filmszenen
herausgearbeitet werden sollen, kann zum einen der Aufstieg und Fall des
Bergsteigermythos Messner nachgezeichnet und zum anderen ein neuer Umgang mit
filmischer Gebirgslandschaft offenbart werden. Der Vortrag reiht sich somit
nicht nur in die Spekulationen über die Bergsteigerlegende Messner ein und
bricht sie auf, sondern macht auch eine neue filmische Landschaftsdarstellung
wahrnehmbar.
Anke
Steinborn (Weimar): DER ROTE ELVIS – Dean Reed, ein
'linker' Mythos und seine 'riskanten Verwicklungen'
Abstract:
„Cowboy, Rockstar, Sozialist“ ‐ so der Untertitel des
Dokumentarfilms DER ROTE ELVIS, der am 12. Februar 2007 auf der 57. Berlinale
uraufgeführt wurde. Das von Leopold Grün inszenierte Portrait des US‐
amerikanischen Rock'n'Roll Musikers und Schauspielers Dean Reed, der mit seiner
Auswanderung in die DDR „in den Käfig ging, aus dem alle raus wollten“ (Armin Mueller
Stahl), überzeugt durch „interessante[] Gesprächspartner, klug
ausgewählte[], oft metaphorisch eingesetzte[] Filmzitate und Bezüge zur
Zeitgeschichte“. Weder mystifizierend noch dekonstruierend verfolgt,
sammelt und konserviert die Dokumentation die Spuren und Utopien des Rebellen
Dean Reed, einem Mythos, der – nicht zuletzt bedingt durch seinen viele Fragen
hinterlassenen Selbstmord – Spekulationen geradezu herausfordert. Anhand des
Films DER ROTE ELVIS diskutiert der Vortrag ob und wie es der medialisierten
Künstlervita gelingen kann, sich vom Spekulativen ab‐
und einer erfahrbaren Wirklichkeit zuzuwenden.
11:00 Kaffeepause
2
// 11:15 - 13:15 Panels
2.1
Empirie und Spekulation
HZ12
Moderation: Marc Ries
Jochen
Koubek (Bayreuth): Empirie als Spekulation
Abstract:
In einer digitalisierten Wissensordnung
soll die Simulation die wissenschaftliche Theorie als zentrale Weise der
Welterklärung ablösen. Nicht mehr über eine geordnete Menge von Aussagen werden
komplexe Systeme erschlossen, sondern im dynamischen Zusammenhang von
Parametern. Die Identifikation, Isolation und Messung dieser Parameter ist
dabei ebenso entscheidend wie die Annahmen ihrer wechselseitigen Beziehungen.
Wo offensichtliche Mutmaßung vermieden werden soll, wird zu diesem Zweck
regelmäßig auf empirische Beobachtung nebst statistischer Auswertung
rekurriert. Unterschlagen wird dabei aber ebenso regelmäßig der Umstand, dass
statistische Verfahren durch die zahlreichen Entscheidungen, die bei ihrer
Planung, Anwendung, Auswertung, Interpretation und Darstellung getroffen werden
müssen, keineswegs verlässliche Zahlen garantieren. In ihrem praktischen
Einsatz erscheinen statistische Modelle der Spekulation näher als den präzisen
Messungen, an deren Ruf sie sich gerne anlehnen. Die Kritik an empirisch‐statistischen
Methoden setzt an drei Punkten an: 1. Bei epistemologischen Diskussionen wie
Humes generellem Misstrauen gegenüber der Induktion als Erkenntnisprinzip oder
dem vorwiegend innermathematische Streit zwischen Bayesianern, Frequentisten
und den Anhängern von R. A. Fisher über das Wesen statistischer Aussagen. 2.
Bei methodologische Fragen, die z.B. durch Simpsons Paradox und dem Problem
verdeckter Parameter aufgeworfen werden. 3. Bei der pragmatischen Beobachtung,
dass Datenerhebungen und ‐analysen in der Regel
von Fachleuten mit rudimentärer statistischer Ausbildung durchgeführt werden,
die den inhärenten Fehlerquellen ihrer Studien aus verschiedenen Gründen nicht
die notwendige Aufmerksamkeit widmen. Im Vortrag sollen diese Punkte im
gebotenen Umfang vorgestellt werden, um darauf aufbauend den spekulativen
Anteil einer empirischer Rationalität zu diskutieren, die u.a. der Simulation
zu Grunde liegt.
Katja
Rothe (Berlin): Technologien des Spekulativen: Das
Assessment Center
Abstract:
In dem Beitrag möchte ich das Assessment Center (AC)
historisch als eine Technologie des Spekulativen beschreiben, die zu Beginn des
20. Jahrhunderts entstand. Dabei kommt es mir auf folgende Aspekte des Spekulativen
an: Zur Spekulation gehört die Risikoabschätzung und Gefahrenabwehr, verkörpert
vom »speculari«, dem römischen Wachposten, der nach Gefahren Ausschau hält. Im Assessment
Center – das neben der Offiziersauswahl im deutschen Heer der Ausbildung von
Agenten in den USA diente, bevor es in den 50ern Teil neuer ökonomischer
Kalküle der Human Relation Bewegung wurde – wird das Ausspähen,
Auskundschaften (»speculor«) eine Grundoperation der permanenten Selbst-
und Fremdbeobachtung sowie der Ausrichtung des eigenen Verhaltens an der
antizipierten Erwartung des anderen. Diese wachsamen Lagebewertungen und
Risikoabschätzungen beziehen sich im Assessment Center auf eine
simulierte Extremsituation, auf eine dramatische Situation, die aber den Regeln
des Experiments gehorcht: sie ist wiederholbar, besteht aus einer planmäßig
durchgeführten Serie von Prozeduren, die der empirischen Gewinnung von Daten
dient und auf die Messung (von Kompetenzen) abgestellt ist. Die »speculatio«,
die Betrachtung, das Beschauen ist im Assessment Center ein
»spectaculum, ein wissenschaftlich angelegtes Spektakel der Verhaltensforschung
und Handlungsvorhersage. Die dazu gehörende Erkenntnisform ist das »Schätzen« (to
assess). Das Schauspiel des Schätzens zielt dabei auf ein Wissen, dass sich
menschenökonomisch einsetzen lässt. Es spekuliert mit den Potentialen seiner
Akteure, mit ihren »Kompetenzen«, die ihrerseits spekulativ sind: sich in ihrer
Aufführung und im Erwartungshorizont der Beobachter aktualisieren. Hierbei
spielen Sprech- und Darstellungsweisen, Kulturtechniken des Spekulativen wie
das »Geschwätz«, das »Gerede« und das »Gerücht« eine zentrale Rolle, denn das Assessment
Center verdichtet die öffentlichen Mutmaßungen, Unterstellungen und
(Selbst-)Behauptungen von „Potentialen“ zu einer Institution, in der
‚Kompetenzen‘ zugleich sichtbar und operationalisierbar werden.
Shintaro
Miyazaki (Berlin): Zeitkritik und Algo-Trading. Die
spekulative Algorithmik der Finanzmärkte 2010-2012
Abstract:
Aus der Ferne spähen und beobachten, spekulieren im
wortwörtlichen Sinn, tun wir seit jeher. Mit dem Aufkommen der technischen
Medien, die Informationen speichern, übertragen und prozessieren,1 geschieht
das »Spekulieren« zunehmend in der Medialität2 von Medientechnolgien und
-praktiken. Verfahren der Zukunftsantizipation, die beim Spekulieren wichtig
sind, sind hier ebenso impliziert. Spekulieren bedeutet aber auch, dass einer
Aussage die rationale Grundlage fehlt. Im Finanzhandel meint »Spekulieren«
zudem, mit dem Geld anderer Geld zu erzeugen, ohne dabei zu wissen, was er tut
und ohne wirklich zu arbeiten. Diese Vorstellungen der »Spekulation« werden im
vorliegende Vortrag in drei Punkten am Beispiel des Finanzhandels insbesondere
unter Berücksichtigung des Algo-Tradings dekonstruiert. Erstens zum Begriff der
Irrationalität der Spekulation: Wenn spekulative Denkprozesse im Unbewussten
geschehen, also auf implizitem Wissen beruhen und oft im Verdeckten, im
Geheimnisvollen geschehen, was passiert, wenn diese vormals menschlichen
Entscheidungsprozesse zunehmend durch algorithmische Prozesse von Software
abgelöst werden? Im aktuellen hochtechnisierten Finanzhandel sind viel mehr hoch
komplexe deterministische Mechanismen am Werk, die durch Spezialisten,
Wissenschaftler und Informatiker getestet, analysiert und ständig verbessert
werden, so dass hier höchsten die Rede von »technologisch unbewussten«3
Prozessen Sinn ergeben würde. Zweitens geht es um den Hinweis, dass die
Finanzströme zwar immateriell sind, doch nur soweit, dass sie digitale Informationen
sind, die auf materiellen Signalströmen beruhen, deren technische Realität
nicht zu verleugnen ist. Dies wird besonders deutlich, wenn die zeitkritischen4
Aspekte im Hochfrequenzhandel mitgedacht werden. Denn dieser spielt sich im
Bereich von Millionstel-Sekunden ab. Die Hochleistungsprozesse im
algorithmischen Finanzhandel, worin nicht-menschliche Software- Akteure mit
anderen Software-Akteuren interagieren, erzeugen mitunter in ihrem
Zusammenspiel unerwartete Katastrophen, die für konkrete Effekte in der
Wirtschaft sorgen. Drittens soll das Primat des Visuellen bei der »Spekulation«
mit einer Analytik ergänzt werden, die mehr als bisher das zeitlich-prozessuale
kultiviert. Solch eine Zugangsweise könnte sich über das Auditiv-Prozessuale
einer AlgoRhythmik, die ich an anderer Stelle ausgearbeitet habe,5
erschließen. Im Vortrag werden die drei Aspekte anhand einer
medienarchäologischen Untersuchung des etwa 20-minütigen Zusammenbruchs der
US-Finanzmärkte am 6. Mai 2010, dem so genannten Flash- Crash,
ausgearbeitet und daraufhin die medienwissenschaftliche Relevanz der
Fragestellung erläutert.
Annika
Frye (Offenbach): Das spekulative Moment von digitalen
Visualisierungen aus dem Gestaltungsprozess
Abstract:
Gestaltungsprozesse sind immer schon von spekulativer Natur.
So kann man Darstellungen und Modelle, die dem noch-nicht produzierten Produkt
vorausgehen, als ein Umreißen von bloßen Möglichkeiten – also als Spekulation –
verstehen. Besonders evident ist dies bei Renderings, den photorealistischen Darstellungen
von einem Produkt oder einer Architektur, die das physische Modell ersetzen
sollen. Designer kennen vielfältige Techniken der Visualisierung: In
Gestaltungsprozessen entstehen spontane Handskizzen, Mock-ups und schließlich
Prototypen. Bei diesen Formen der Materialisierung von Ideen sind immer auch
digitale tools am Werk: Der Einsatz von CAD-Programmen hat den
Gestaltungsprozess seit den 80er Jahren verändert. Dem physischen Modell geht
nun eine digitale Darstellung voraus, sie dient als Plan für dessen Umsetzung. Inmitten
all dieser Prozesse von Realisierung im „echten“ Raum und Digitalisierung im „virtuellen“
Raum gibt es das Rendering, das – zwischen Modellen und technischen Zeichnungen
– eine merkwürdige Position innehat. Renderings entstehen auf Basis eines CAD-Modells,
das in einem virtuellen Photostudio Materialität, Farbe und Lichteffekte erhält.
Die Detailgetreue des Renderings geht über die Präzision der Handzeichnung hinaus,
Renderings scheinen ein „echtes“ Produkt abzubilden: Sie suggerieren ein >Nachher<
in einem >Vorher<. Viele Entwürfe verbleiben in diesem Stadium der
digitalen Darstellung. Denn das digitale toolkit verleitet dazu, sich den
Restriktionen des Machbaren zu entziehen. Der Übergang zum Modell erscheint
unnötig, gibt das Rendering doch alles wieder, was zuvor das Foto eines Modells
zeigte. So werden die dargestellten Konzepte beliebig: Im Rendering ist alles
möglich, es simuliert Dinge, die eigentlich erst noch der Überprüfung bedürfen.
Schließlich wird die Darstellung selber zum Produkt, das dann in den Blogs und Zeitschriften
vervielfältigt wird. Wie gehen nun die Gestalter mit der Problematik um, der
Spekulation im virtuellen Raum zu erliegen?
Sandra
Groll (Offenbach):
Das Kreuzen des Spiegels.
Spekulationsmedien der Gestaltung
Abstract:
Es mag auf den ersten Blick legitim erscheinen dem Entwurf
eine per se spekulative Qualität im Sinne einer vagen Erkundung des zukünftig
Möglichen beizulegen. Insbesondere die ausgewiesenen Konzeptentwürfe des
klassischen Industrial- und Automobildesigns verstehen sich in dieser Weise als
Spekulationen. Jedoch, so die These, greift ein solch grobes Verständnis von
Spekulation im Design zu kurz, und führt hinein in die Sinnkrise zeitgenössischer
Konzeptentwürfe. Allenthalben präsentieren sich sogenannte „concept cars“,
„concept bikes“ und ähnlich bezeichnete Gestaltungskonzepte als spekulative
Erkundungen im Medium Sinn. Spekulatives, also jenes Herstellen von
Sichtbarkeit imaginärer Sinnformen oder gesellschaftlicher Latenzen, bleibt in
ihnen jedoch zumeist glücklicher Zufallsfund. So rollen die viel beachteten
„concept cars“ dem Betrachter auf den erwartbaren vier Rädern entgegen und
versuchen unter den etablierten Sinnangeboten Sport, Ökologie oder Luxus das
Verhältnis von Bedarf und Begehren neu auszuloten. Die Kraft gestalterischer
Spekulation liegt jedoch nicht in der Antizipation eines zukünftig Realen unter
den Bedingung des „jetzt – schon – Gegebenen“, sondern in der Konstruktion anderer,
bisher ausgeschlossener, Einheiten im Medium Sinn. Spekulationsmedien in der
Gestaltung - zu diesen gehören „concept“- Entwürfe sehr wohl - sind eine Praxis
des Abspiegelns. Sind in ihnen die Formen der Spekulation konsequent umgesetzt,
wie zum Beispiel in den Arbeiten von Dunne & Raby, verlassen sie die feste Warte
ihres aktuellen Kontext und formen Gestalten, in denen andere imaginäre
Sinnformen sichtbar werden. Gestaltung als Spekulation soll in diesem Beitrag
als ein spezifischer Umgang mit der imaginären und symbolischen Realität einer Gesellschaft
vorgestellt werden. Ist ein Entwurf spekulativ, so die These, markiert er in
der Unterscheidung der Form das bisher Unmarkierte und zieht im zeitlichen
Verlauf eben dies Unmarkierte wieder hinein in die Kommunikation und somit in
Gesellschaft. Eine solche Beobachtung von Spekulationsmedien der Gestaltung folgt
Überlegungen Luhmanns, Lacans und Spencer Browns.
2.2
Mediale Unschärfen und Spekulation
HZ13
Moderatoren: Kay Kirchmann, Jens Ruchatz, Lars Nowak
Christoph
Ernst (Erlangen-Nürnberg): Ikonische Unbestimmtheit,
diagrammatisches Möglichkeitsdenken und die spekulative Auslegung von Fotografie
Abstract:
Der Vortrag zeigt, inwiefern die
referenzielle Unbestimmtheit ikonischer Ähnlichkeit unter der Garantiebedingung
indexikalischer Kausalität im Fall der Fotografie solchen Auslegungsverfahren
eine besondere Bedeutung hat zukommen lassen, die es erlauben, die analogischen
Möglichkeiten des fotografischen Bildes in ein diagrammatisches Schema zu überführen
und dadurch zum Gegenstand spekulativer Narrative (Mythen, Verschwörungstheorien)
zu machen.
Sven
Grampp (Erlangen-Nürnberg): Hintergrundrauschen:
Funkverkehr mit Astronauten
Abstract:
Der Funkverkehr zwischen der Apollo
11-Mission und Huston wurde in der televisuellen Live-Berichterstattung ständig
(mit-)übertragen, war jedoch zumeist unverständlich. Selbst die berühmtesten je
gefunkten Worte: „That’s one small step for [a] man, one giant leap for mankind“
wurden zum einen schlichtweg überhört. Zum anderen ist bis heute strittig, ob Neil
Armstrong den Satz tatsächlich vollständig artikulierte. Erst nachträglichen
medialen Verarbeitungen ist es zu verdanken, dass dieser Satz zu einer
symbolisch signifikanten Phrase akzentuiert wurde. Mit dem Umschlag vom
materiell bedingten Rauschen des Funkverkehrs zur semantischen – und dabei
immer auch spekulativen – Bewältigung dieses Rauschens setzt sich der Vortrag
auseinander.
Carolin
Lano / Thomas Nachreiner (Erlangen-Nürnberg): Die
rasende Vernunft: Verschwörungstheoretische Spekulationen
Abstract:
Im verschwörungstheoretischen
Schlussfolgerungsverfahren geraten mediale Unschärfen zum Ausgangspunkt einer
Lektürelogik, die mittels geeigneter Eingriffe in das Ausgangsmaterial – wie
Vergrößerungen des Bildausschnitts, Änderung der Wiedergabegeschwindigkeit etc.
– einen verborgenen Erkenntnisgegenstand exponiert, der zuvor angeblich
unterhalb der Wahrnehmungsschwelle verblieben wäre. Verschwörungstheorien
oszillieren hierbei zwischen einem medientechnisch induzierten „Verdacht“ (Boris
Groys) gegenüber den medialen Oberflächen und vermeintlich rational-empirischen
Erkenntnisoperationen, die über diesen Verdacht „spekulieren“, ihn dabei aber
paradoxerweise immer wieder perpetuieren. Am Beispiel der Verschwörungstheorien
zu den Terroranschlägen des 11. Septembers und ihrer Zirkulation im Web wird
überlegt, inwieweit die Form dieser konspirologischen Lektüre mit der
intermedialen Struktur ihrer Produktion – zwischen Foto, TV, Film und Web – korrespondiert.
Sabine
Wirth (Erlangen): ‚Point & Click’: Über das
spekulative Potential grafischer Benutzeroberflächen
Abstract:
Der Computer, oft beschrieben als Universalmedium oder
symbolische Maschine, generiert aufgrund seiner quasi-immateriellen
Operationsweise einen prinzipiell unabgeschlossenen Bestand an möglichen
Nutzungsformen. Dieser Vortrag will anhand einiger Beispiele untersuchen, wie
grafische Benutzeroberflächen diese mediale Unbestimmtheit bzw. Unschärfe
überlagern und in ihrer einschränkenden Fokussierung ein ‚spekulatives’
Potential entwickeln, indem sie auf Metaphern und Narrationen wie die
Desktop-Metapher oder das Prinzip der direkten Manipulation (‚Point &
Click’) zurückgreifen, die Anschlüsse an ältere Medien und Kulturtechniken
produzieren, jedoch selbst wieder semantische Unschärfen erzeugen.
2.3
Workshop. In der Schwebe halten: Alltag, Affekt und spekulative Praxis
HZ14
Moderation: Reinhold Görling, Stephan Trinkaus
Jule
Korte (Düsseldorf): Scripted Reality als spekulative
Praxis
Abstract:
In Sendungen, die gemeinhin als Scripted Reality bezeichnet
werden, werden (soziale) Wirklichkeit und Alltag auf der Basis spezifischer
Vorstellungen von Drehbuchautoren konstruiert. Die Protagonisten der
Geschichten werden von für besonders authentisch befundenen Laiendarstellern
verkörpert. Diese Formate können als umfassende und mehrschichtige spekulative
Praxis gefasst werden, in denen Autoren ihre Vorstellungen von sozialem Alltag
zu verbildlichen versuchen, das Publikum zur Spekulation über die dargestellten
„Anderen“ angeregt wird, die Darsteller mit dem Habitus ihrer Rolle spekulieren
und – nicht zuletzt – mit der Hoffnung auf Quote auch auf das affektive
Potential der erzählten Geschichten spekuliert wird.
Lisa
Handel (Düsseldorf): Mikromedialität
Abstract:
Unter dem Begriff der „Spekulativen
Mikromedialität“ soll nach der ahumanen, präindividuellen Dimension und
inhärent medientechnischen Verfasstheit einer spekulativen Prozesshaftigkeit
des Alltäglichen aus der Perspektive einer Medienphilosophie der
virtuell-aktualen Relationalität u.a. im Anschluss an Deleuze/Guattari gefragt
werden. Eine Verschränkung von Intra-Aktivität (Barad) mit der Zeitlichkeit medientechnologischer
Mikroumwelten (Hansen) verweist derart in der Frage nach den
Virtualitätsspektren des Alltäglichen auf eine notwendige Rekonzeptualisierung von
Medialität selbst, die sich längst nicht mehr primär subjektbezogen und prothetisch
begreifen lässt, sondern im Sinne einer Bedingung des relationalen Welt- Werdens
aufgefasst werden kann.
Maximilian
Linsenmeier (Düsseldorf): Spekulation
und Performance – Spekulative Performance, Performance der Spekulation
Abstract:
Der Vortrag möchte die Praxis der Spekulation in
Produktionsprozessen und Arbeiten der Performancekunst und der zeitgenössischen
Choreographie aufsuchen. Welche Funktionen, Operationen, Propositionen und vor
allem Prozesse der Relationierung ermöglicht die spekulative Haltung bzw.
Einstellung als methodisches Instrument der Produktion und als ästhetischer
Prozess selbst? Und inwiefern bietet die spekulative Praxis/Praxis der
Spekulation eine Art "kreatives Scharnier", um Alltag und Kunst sich
gegenseitig annähern zu lassen?
Daniel
Rademacher (Düsseldorf): Improvisation
Abstract:
Szenische Improvisationen werden dynamisch, wenn
Improvisierer die Kunst beherrschen, die Spielangebote ihrer Mitspieler zu
»akzeptieren«. Für den Theatermacher und Improvisationsspezialisten Keith
Johnstone besteht der Witz des Akzeptierens darin, dass keiner der Beteiligten
absehen kann, was durch diese Offenheit entsteht: Es gibt nicht mehr das Schema
»Frage-Antwort« - denn das Akzeptieren eines Spielangebots vollzieht sich über
die reziproke Artikulation eines neuen Angebots an den Interaktionspartner.
Dass diese Bedingung nicht nur der interaktiven Struktur der Improvisation
geschuldet ist, zeigt das Credo der amerikanischen Choreographin und
Improvisationskünstlerin Deborah Hay: “My body does not like answers.”
Vielleicht entspricht es einer zeitgenössischen Empfindung, Alltag als Abfolge
spekulativer Spielangebote zu erfahren.
Jessica
Nitsche (Düsseldorf): Spekulation und In(ter)vention.
Abstract:
(nicht vorhanden)
2.4
Was wäre, wenn...? Animation als Medium visualisierter Spekulationen
HZ15
Moderation: Franziska Bruckner
Andreas
Rauscher (Mainz): Animierter Retrofuturismus. Futurama und der (anti-)utopische Alltag
Abstract:
Anfang der 2000er Jahre sollte die von
Matt Groening und David Cohen konzipierte Science- Fiction-Serie Futurama das
Erbe der populären Simpsons antreten. Doch die Zukunft gehörte weiterhin
der animierten Gegenwart. Die ausgefallene Kombination der Ästhetik vergangener
Zukunftsvisionen mit den skeptischen Perspektiven klassischer Dystopien erwies
sich als zu speziell für den Mainstream, obwohl gerade die alltäglich gewordenen
Standardsituationen der Science-Fiction über ein besonderes Potential zur
Reflexion gesellschaftlicher Spekulationen und retrofuturistischer
Genretraditionen verfügen. Der geplante Vortrag begibt sich auf eine motivische
Spurensuche der Spekulationen über die Vergangenheit der Zukunft.
Erwin
Feyersinger (Innsbruck): Der Graph steigt, das Schiff sinkt.
Spekulatives Visualisieren von Vergangenem und Zukünftigem
Abstract:
Animation suggeriert, dass vermutetes Vergangenes ebenso wie
prophezeites Zukünftiges präsent und anschaulich gemacht werden kann.
Offensichtlich ist dies bei abstrakten Daten, die durch animierte Grafiken
visualisiert werden. Einzelne Messergebnisse werden bildlich zu einer
kontinuierlichen Entwicklung, die sich prognostisch in die Zukunft verlängern
lässt. Zu beobachten sind solche spekulativen Darstellungen unter anderem bei
geologischen, klimatischen, sozialen, ökonomischen und politischen
Entwicklungen. Dass diese retrospektiven und prospektiven Spekulationen nicht
nur die Visualisierung abstrakter Daten betreffen, zeigt der Vortrag anhand der
Darstellung von Schiffskatastrophen. Aus sehr unterschiedenen Gründen wird im
animierten Dokumentarfilm The Sinking of the Lusitania (Winsor McCay,
1918), im Hollywoodspektakel Titanic (James Cameron, 1997) und in den
Berichten über den Untergang der Costa Concordia (Anfang 2012) Animation als spekulatives
Werkzeug eingesetzt.
Nicole
Kandioler (Wien): Verliebtes Fleisch. Spekulative
Leistungen der ZuschauerInnen in tschechischen experimentellen Animationsfilmen
Abstract:
In seinen
beiden Filmen Meat Love (ČR 1989) und Little Otik (ČR 2000) nutzt Jan Švankmajer
Einstellungsgrößen des Mainstreamfilms und an sie geknüpfte Erwartungshaltungen
der ZuschauerInnen, um die "boy meets girl" Geschichte anhand zweier Fleischstücke,
bzw. die erweiterte "boy meets girl gets pregnant" Geschichte mit
einem Baumstumpf als Kind des Paares zu erzählen. In dem TV-Märchen Všehochlup
(Zdeněk Smetana, ČSSR 1978) lebt an der Spitze eines kleinen Hofstaates ein
König mit einem haarigen Fantasiewesen. Die narrative Position dieses Wesens
ist eindeutig jene der Königin, allein verfügt Všehochlup über keine einzige
königinnenhafte Eigenschaft. Anhand des angeführten Filmmaterials soll über die
Verschränkung filmischer, narrativer Verfahren und der „Erzählung“ von
Heterosexualität im Hinblick auf die spekulativen Leistungen der ZuschauerInnen
nachgedacht werden, denn erst dadurch werden die filmischen
Gegenstände/Fantasiewesen in ihrem Genre-Kontext verortet. Inwieweit tragen diese
Spekulationen zur medialen Konstruktion hegemonialer Strukturen bei und könnte
man sie als „unverzichtbare heuristische Fiktionen“ (im Sinne Nietzsches)
lesen, die letztlich die Aufrechterhaltung von Heteronormativität garantieren? Jens
Meinrenken (Berlin): Tanzende Tiere im Scheinwerferlicht.
Animierte Werbung als idyllische Antwort auf wirtschaftliche Krisenzeiten
Abstract:
Es ist eine besondere Form des Spekulativen, die sich in der
animierten Werbung der Gegenwart niederschlägt. Grenzbereiche des Realistischen
mutieren zu idyllischen Idealen einer Sozialökonomie, die dem Konsumenten ein
sorgenfreies Leben versprechen. Die Animation fasst dabei Dinge ins Auge, die
dem Realfilm aufgrund seiner medialen Differenz verborgen bleiben. Der Vortrag
möchte zeigen, mit welchen Strategien der animierte Werbefilm auf die Krise der
letzten Jahre antwortet. Bei genauerer Betrachtung wird eine Tiefendimension
des Künstlerischen sichtbar, deren Virtuosität den plakativen Status der Werbebotschaften
mühelos unterläuft. Der Fokus der Beispiele liegt auf kreative Produktionen wie
Think Blue. Symphony für VW oder dem Staying-Alive-Spot für
Mercedes- Benz. Naturidylle, Sozialkritik und die technische Fabrikation des
Animationsfilms bilden zusammen die Bausteine für eine kritische Betrachtung
dieser kommerziellen Spekulationen.
2.5
Das Visuelle der Ökonomie
HZ10
Moderation: Sebastian Vehlken
Florian
Hoof (Frankfurt/Main): Vertraute
Oberflächen. Möglichkeitsbedingungen
der Systemkrise
Abstract:
Die Ursachen der jüngsten
Wirtschaftskrise sieht der Wirtschaftswissenschaftler Tyler Cowen weniger
in der ‚Gier’ oder in unzureichender Regulierung, sondern in einer zu positiven
Grundstimmung, einer Zuversicht in der Wirtschaft, die sich von den realwirtschaftlichen
Markern abgekoppelt habe. Diese Kultur der ökonomischen ‚brightsidedness’
thematisiert dieser Vortrag als Möglichkeitsbedingung ökonomischer Systemkrisen
am Beispiel der Weltwirtschaftskrise von 1929. Im Mittelpunkt steht daher keine
wirtschaftswissenschaftliche Erklärung dieser Krise, noch die Thematisierung
eines abstrakten Vertrauensvorschusses in das System ‚Kapitalismus’. Die
Stabilität eines Wirtschaftssystems, so die vertretene These, hängt
hauptsächlich von der konkreten Form des Wirtschaftens, der eigentlichen
„Plusmacherei“ ab. Die handelnden Subjekte sind dabei in eine Management‐
und Entscheidungskultur eingebunden, das plausible Verhaltensweisen und eine
grundlegende Form des Systemvertrauens bereitstellt. Das Jahr 1929 ist nicht
nur mit der Weltwirtschaftskrise verbunden, zeitgleich veröffentlicht Erich
Gutenberg die Grundzüge der wirtschaftswissenschaftlichen Faktorenlehre,
Gründungstext der sich etablierenden Betriebswirtschaftslehre. Die
Wirtschaftskrise korrespondiert demnach, zumindest auf der Ebene des
Betriebsmanagements, gerade nicht mit der Form risikoreicher Spekulationen,
sondern mit dem Inbegriff kaufmännischer Tugenden. Nicht der Praxis
risikoreicher Entscheidungen, sondern einem rigiden System des Controlling wird
hier der Weg bereitet. Zwischen 1880 und 1929 entstehen neue
Entscheidungsarenen im Management, die zum großen Teil auf dem Einsatz
graphischer, filmischer und fotographischer Darstellungsformen basieren. Es
bildet sich ein neues (graphisch visuelles) Regime des Vertrauens und der
Handlungsfähigkeit. Wirtschaftliche Risiken werden ausgelagert, an externe
Berater verwiesen, visualisiert, verrechnet und dadurch in eine neue Ästhetik
überführt. Die zeitliche Überschneidung mit der Weltwirtschaftskrise ist kein
Zufall. Spekulanten sind gerade keine Hasardeure, sondern Experten, die in
Entscheidungsarenen handeln und dort auf Sicherheit und Vertrauen angewiesen
sind. Erst die Etablierung eines solchen ästhetischen Regimes stellt
demnach die Möglichkeitsbedingungen für einen Wirtschaftskollaps bereit. Der
Systemzusammenbruch von 1929 ist im Sinne Schumpeters Teil der „creative
destruction“. Es entstehen neue Formen der Managementkultur, die gleichzeitig
den Kern einer neuen Krise schon in sich tragen. Ziel des Vortrags ist es den
zyklischen Konjunkturmodellen der Wirtschaftswissenschaft ein Modell eines Vertrauens‐
bzw. Evidenzzyklus zur Seite zu stellen, der sich nicht zuletzt auf eine
etablierte visual culture des Entscheidens und Steuerns in der
Wirtschaft zurückführen lässt.
Andreas Jahn-Sudmann (Göttingen):
Anfang und Ende der Spekulation
Abstract: Wie
kommt die Spekulation in die Welt? Was bereitet sie vor? Wie können wir diesen
raum-zeitlichen Punkt fassen, an dem die Spekulation zur Abhebung kommt? Wird
die Spekulation als solche markiert? Wie erreicht die Spekulation einen Moment
der Abschließung? Existieren distinkte Phasen des Übergangs, die Anfang und
Ende der Spekulation einleiten und ausklingen lassen? In der Sphäre der
Ökonomie setzt die Spekulation laut John Kenneth Galbraith ein, sobald „sich
die Phantasie der Öffentlichkeit an etwas scheinbar Neuem auf dem Gebiet des
Handelns oder Finanzen entzündet“ (1992, S. 31). Sind damit aber Zeitpunkt
sowie die Vorbedingungen einer Spekulationsphase hinreichend präzise
beschrieben? Käme es nicht darauf an, die – im weitesten Sinne – mediale
Umgebung der Spekulation in den Blick zu nehmen, noch bevor sie eingetreten
ist? Der Beitrag möchte sich der Spekulation als einem raumzeitlichen Problem
widmen, nicht zuletzt deshalb, weil das (utopische) Denken der Spekulation,
dass das Bestehende überschreitet, selbst auf diese Schwierigkeit einer genauen
raumzeitlichen Bestimmung verweist und sie als solche reflektiert; man denke
etwa an das Konzept der Flaschenpost der kritischen Theorie Adornos und
Horkheimers (1969 [1944/47], das die prinzipielle und notwendige Unabgeschlossenheit
des spekulativen Denkens jenseits des Bestehenden metaphorisch ebenso auf den
Begriff bringt, wie schon der Untertitel der Dialektik der Aufklärung:
„Philosophische Fragmente“. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht nicht die
Medialität und Materialität der Spekulation als in oder an sich abgeschlossene
Praxis oder Denkfigur, sondern als ein form‐ bzw. medienabhängiges Dazwischen (vgl.
Luhmann 1997a, 1997b). Das Interesse gilt der Situiertheit und der
(selbstreflexiven) Markierung dieser Situiertheit der Spekulation, sowie den
Effekten, die sich aus dieser Situierung für die Verortung der Spekulation
selbst ergeben. Mit anderen Worten: Inwieweit ist das Spekulieren eine
Operation, deren Form und Dynamik auf ihre Situierung zurückwirkt und sie eo
ipso verändert? Um die Spekulation aus medienwissenschaftlicher Perspektive in
eben diesem Sinne epistemologisch zu konturieren, sollen drei heterogene, nicht
unbedingt a priori distinkte Formen und Gebiete der Spekulation (exemplarisch)
verglichen werden: die Spekulation als ökonomische Praxis (Schumpeter, Vogl),
als philosophische Denkfigur (bei Hegel, Adorno und Derrida) und als erzähl‐ und kulturtechnisches Zusammenspiel
(Genette, Ricoeur u.a.).
Angela
Krewani (Marburg): Spekulation und Transformation. Zur
Institutionalisierung der „artists in labs“
Abstract:
Wie vielfach bekannt, arbeiten eine
Reihe der zeitgenössischen Naturwissenschaften, wie z.B. die Life Sciences, die
Bio- und Nanotechnologien wie auch die Klimaforschung mit einem Bild- und
Erkenntnisreservoir, das sich oft zum großen Teil auf visualisierte Daten
verlässt. Damit ist das ‚reale‘ Forschungsobjekt oft ersetzt durch Diagramme,
Fotografien, Bewegt oder Simulationsbilder, die zur Wirklichkeits- und
Wissensproduktion der jeweiligen Wissenschaft beitragen. Bildmaterial jeglicher
Art wird in diesem Kontext nicht mehr als naive Dokumentation von Faktischem,
sondern als technische Konstruktion von sozialem und kulturellem Wissen
gesehen. Obwohl die Wissensproduktion in den Laboren sich demgemäß als
Produktion ‚realen‘ Wissens versteht, werden seit längerer Zeit oft und gerne
KünstlerInnen in die Forschungslabore eingeladen, die hier die Arbeit der
WissenschaftlerInnen begleiten und durch eigene ästhetische Projekte
kommentieren. Durch diese Zusammenstellung begegnen sich sowohl
wissenschaftliche als auch ästhetische Praxis. In der Begegnung werden zwei
entgegengesetzte Formen der Wissensgestaltung korreliert und dadurch treten
gegenseitige epistemische Bedingungen offen zutage, spekulatives Wissen kann
erscheinen.
Die Kontextualisierung von Kunst und Wissenschaft
bewirkt eine Reflexion auf die epistemischen Dimensionen von wissenschaftlicher
Erkenntnis und legt insbesondere in Bezug auf den Kontext medialer Prozesse die
Spekulativität der Wissensgenerierung offen, thematisiert die
Unhintergehbarkeit medialer Gestaltung und verweist von dieser Position aus
nochmals auf die spekulativen Anteile medialer Gestaltung und die Hybridisierung
wissenschaftlicher und ästhetischer Diskurse (von Alfred Nordmann
als ‚collapse of distance‘ bezeichnet).
Aufbauend auf den historisch angelegten Austausch ästhetischen und
wissenschaftlichen Wissens kann die künstlerische Produktion im Labor als
Annäherung beider Wissensformen verstanden werden. Wissenschaftliches Wissen
wird damit in den Bereich der ästhetischen Produktion verschoben. Für die
Verschiebung vorgeblich stabilen Wissens in den Bereich ästhetischer Produktion
ist der Begriff ‚Spekulation‘ hilfreich und durch seine spezifischen
Bedingungen von der Simulation abgrenzbar. - Das spekulative, kreative Wissen
der ästhetischen Praxis wird durch die Kontextualisierung im Labor aufgewertet.
Es ist zu fragen, in welche Wissensformationen und Kommunkationsprozesse – und
in welcher Form – das spekulative Wissen der ästhetischen Praxis einfließt. Anhand
ausgewählter Beispiele soll in Vortrag der Begriff der ‚Spekulation‘ auf die Verfahren
und Produkte bezogen und theoretisch entwickelt werden, die sich im transformativen
Bereich zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Kunst‘ ausbilden.
2.6
Mediengeschichte der Medienzukünfte
NG 1.741a
Moderation: Stefanie Diekmann
Stefanie
Diekmann (Hildesheim): Markers Medien
Abstract:
Chris Markers Film „Level Five"
(1995) eröffnet mit einem Gedankenspiel: Wie erginge es einem Neandertaler, der
in eine nächtliche Stadt unserer Gegenwart gerät: „Ideen, Erinnerungen,
Visionen sind für ihn eins - eine Halluzination, die ihm Angst macht. Dieselbe
Vision wie die von William Gibson, als er ‚Neuromancer’ schrieb und den
Cyberspace erfand.“ Der Neandertaler sind wir und Chris Markers Filme sind der
Schauplatz, an dem die Gegenwart sich an ihre Zukünfte erinnert. „Le souvenir
d'un avenir“ lautet schließlich der Titel des vorletzten Werks von Marker, das
man als Film vielleicht noch bezeichnen kann. Davor schon gab es die CD-Rom namens
„Immemory“. Seitdem sind seine Diaschauen bei Youtube (Kanal unter dem
Pseudonym Kosinki) zu finden, zwischendurch hatte er sich im Second Life
eingerichtet, dort sogar Teile seines eigenen OEuvres zu Bildern einer sehr
ungewöhnlichen Retrospektive installiert. So bewegt sich Marker – der
Filmemacher, der früh überzeugt war: „Der Film wird kein zweites Jahrhundert
erleben“ – in den Medien der Zukunft: In „2084“ (1984) imaginiert er eine
Nachrichtensendung (aus) der Zukunft; postnuklear hingegen ist „La jetée“
(1962), Markers berühmtestes Werk, das den Blick in die Zukunft in der
anachronistischen Form eines Fotoromans bricht. In den Spekulationen Chris
Markers steckt das ‚Spähen’ der speculatio, aber es steckt auch der
Spiegel als speculum darin: In jedem neuen Medium, das Marker ergreift,
findet sich die Darstellung und die Antizipation neuer Medien auf drei Momente
verwiesen, die die Zeitlichkeit aller Zukunftsentwürfe verkomplizieren: das
Retrospektive als die ‚falsche’ Erinnerung der Gegenwart ans Vergangene; das
Projektive als Aufladung der Zukunft mit Wünschen und Ängsten; das Spekulative
der Späh- und Spiegelstrukturen. Raymond Bellour hat Marker als einen Künstler
beschrieben, der „durch das hartnäckig präzise Herumstreifen im Grenzbereich
einer Gegenwart, die sich immer sofort in Erinnerung verwandelt, schließlich
auf die Erinnerung der Zukunft verfiel“. Um die Praxis der Zeit- als
Medienverhältnisse in Markers einschlägigen Filmen, Videos und auch in seiner
Arbeit in neueren Medienkonstellationen soll es in diesem Vortrag gehen.
Mathias
Mertens (Hildesheim): Flux Kompensation. Über den Mangel an
gegenwärtigen Zukunftsspekulationen
Abstract:
Zukunftsvisionen waren in der Vergangenheit Psychoanalysen
des technischen Wandels, Verhandlungen der Traumata (McLuhan), die den Nutzern
und dem Publikum neuer Technik zugefügt wurden. Im Entwurf von utopischen und
dystopischen Umgebungen wurden die Zumutungen durch und enttäuschten
Erwartungen an Technik verarbeitet und ihre mögliche Medialität allegorisch bis
metaphorisch dargestellt. Zukunft scheint seit einigen Jahren allerdings ein
historisches Konzept geworden zu sein. Wenn Zukunftsvisionen auftauchen, dann
nur mit der Ästhetik, den Inhalten und den Problemen vergangener
Zukunftsvisionen. Die Gegenwart, so scheint es, ist nicht das, was sich die Vergangenheit
vorgestellt hat, sondern sie ist eine andere Form derselben Spekulation auf die
Zukunft. Mit der falschen deutschen Übersetzung des Zeitreisegenerators aus
„Back to the future“ kann man dieses Phänomen als „Flux Kompensation“ bezeichnen.
Flux Kompensation ist die seit den 1980er Jahren durch individualisierte
Aufnahme- und Abspielgeräte, durch Heimcomputer und durch telematische
Vernetzung entstandene Möglichkeit, verschiedenste medienhistorische Inhalte
und Dispositive zu überblenden und aktualisiert zu halten. Und damit das
Verfließen des Broadcast zu stoppen, das in allen konsumtheoretischen
Definitionen von Massenmedialität vorausgesetzt wird. Der Vortrag analysiert
dieses Phänomen u.a. an den Filmbeispielen „Back to the Future“, „Matrix“, „Out
of Time“, „Futurama“ und „Inception“.
Volker
Wortmann (Hildesheim): Die Geste der Medien – zur Geschichte
visueller Medienentwürfe im Film
Abstract:
Von Journalisten nach der Möglichkeit von
Interkontinentalflügen gefragt, zeigte der Flugpionier Orville Wright sich im
Jahr 1909 noch außerstande, diese auch nur ansatzweise zu imaginieren:
Technisch sei das nicht realisierbar. Dabei hatte H.G. Welles im Jahr zuvor
schon mit „The War in the Air“ den Lesern seines Romans eben diese Vision als
transkontinentalen Luftkrieg vor Augen gestellt. Zukunftsprognosen scheitern
nicht selten an ingenieurswissenschaftlicher Expertise. Wer wissen will, wie
die Zukunft aussieht, hält besser Ausschau nach dem spekulativen und
spektakulären Entwurf: Neben Zukunftswissenschaftlern wenden sich heute auch
Entwickler von IT-Firmen der Analyse einschlägiger Sci-Fi-Filme und Romane zu,
um in ihren Labors die nächste Zukunft technisch zu reproduzieren. Erste
Entwürfe von Tablet-PCs, Smartphones und Painless-Medical-Tech sind zumindest
schon in den ersten Star-Trek-Staffeln der 60er Jahre zu besichtigen. Das
Imaginäre war den Medienentwicklungen immer schon voraus. Tatsächlich entwerfen
fiktionale Filme und Texte keine Medientechnik, sondern bestenfalls die Technik,
mit Medien umzugehen, den Habitus, der ihre Potentialität erschließt und
schließlich - hier setzt die Analyse des Vortrags an: das gestische Repertoire,
mithilfe dessen sich Medien anverwandeln lassen. Ausgehend von der These, dass
spekulative Medieninszenierung in Filmen in einem reziproken Verhältnis zur
Medienentwicklung stehen und die filmische Spekulation zugleich verstanden
werden kann als Spiegelstadium der medialen Ontogenese, werden mit der
Inszenierung der Telephonie in Filmen der 20er und 30er Jahre und der Analyse
der Inszenierung von virtuellem Interface in Filmen der 90er und 00er Jahre
zwei historische Beispiele der Geschichte visueller Medienentwürfe analysiert.
Vanessa
Aab (Hildesheim): Computergenerierte Traumwelten
Abstract:
(wird nachgereicht)
13:15 - 14:15 Mittagessen
3
// 14:15 - 16:15 Panels
3.1 We
Were Promised Jetpacks
Pop ohne Utopie?
HZ11
Moderation: Charis Goer
Thomas
Hecken (Siegen): Schluss mit der Spekulation. Pop am
Ende seiner Bestimmung
Abstract:
Die Rede über Pop zeichnet sich bis heute zumeist dadurch
aus, dass sie es unterlässt, ihren Gegenstand präzise zu bestimmen. Dies hat
damit zu tun, dass diejenigen, die sich im Feuilleton und in Szenenorganen zu
Pop äußern, sehr lange vom Unwert oder Wert des Begriffs fasziniert gewesen
sind. Diese Faszination zeigt sich darin, dass der Pop-Begriff nicht nüchtern
und für andere verständlich und gebräuchlich erläutert wird, sondern vage 2 schillert
und andeutet - Richtung Hipness, Subversion etc. In den angloamerikanischen Wissenschaften,
die sich Pop zumeist aus radikaldemokratischen Überzeugungen heraus nähern,
lautet die Entsprechung dazu, mit einem äußerst umfassenden, in vielerlei
Hinsicht diffusen Definiens, das "popular culture" und "pop
culture" synonym setzt, zu operieren. Dagegen soll nun - in einer Zeit, in
der Pop als Diskursgegenstand in Hip-Szenen und unter Anhängern der Cultural
Studies merklich an Faszination zu verlieren beginnt - eine Bestimmung
vorgelegt werden, die wenig Raum für Spekulationen (und utopisches Potential) mehr
lässt.
Nadja
Geer (Berlin): Lieber ein bisschen zu viel als zu
wenig: Pop als Realutopie darf nicht sterben
Abstract:
Eine Pop-Definition daran zu messen, ob
sie sich durchsetzt, hieße, eine Art Theoriedarwinismus einzuführen. Pop in all
seiner Vielfalt und seinem Potenzial bliebe damit auf der Strecke. Bevor man
eine Bestimmung vorlegt, die wenig Raum für Spekulation lässt, muss man sich
den Gegenstand anschauen, den man bestimmen will. Und Pop ist kein Gegenstand -
damit fängt das Problem an. Eine aufs Material festgelegte, statische
Definition würde sich besonders im kritischen Alltag fatal auswirken, da sie im
Vorhinein einen viel zu großen Bereich ausschließen würde. Vielleicht den
interessantesten, auf jeden Fall aber den Bereich, der Intellektuelle an Pop
fasziniert: Wahrnehmungsmuster erschaffen, am diskursiven Wirklichkeitsbegriff
mitarbeiten – kurz: Spekulation. Hier finden die Allmachtsphantasien von
Intellektuellen fruchtbaren Boden. Nähme man dem Popdiskurs in Deutschland diese
Komponente, nähme man ihm seine Anziehungskraft. Jochen
Bonz (Bremen): Popkulturelle Erfahrungsräume des Utopischen
Abstract:
In jüngster Zeit ist ein Verständnis
von Pop aufgekommen, das zwischen einer vergangenen und einer zeitgenössischen
Variante des Pop auf der Ebene der Erscheinungsformen subjektiver Bezugnahme
auf popkulturelle Objekte unterscheidet: Früher sei man durch Popmusik
sozialisiert worden; heute fungiere sie als Kunstwerk, also als Agent
ästhetischer Erfahrung. Diese insbesondere von Diedrich Diederichsen
vorgebrachte Idee möchte ich in meinem Beitrag nicht diskutieren, sondern zum
Anlass für eine Re-Lektüre zweier Studien aus dem Bereich der Cultural Studies
nehmen, die, entstanden Ende der 70er bzw. Ende der 90er Jahre, die Verschränkung
beider Aspekte (Pop als Sozialisationsinstanz und als Kunstwerk) thematisieren:
Angela McRobbies, aus der Kritik an den weibliche Akteure ausklammernden
Subkulturstudien ihrer männlichen Kollegen am Birminghamer Centre for Contemporary
Cultural Studies hervorgegangene Skizzierung einer schwärmerischen Mädchen-Fankultur
in "Girls And Subcultures"; und Gerry Bloustiens medienethnografische
Untersuchung mimetischer Aushandlungen des Selbst durch weibliche Teenager
mittels filmischer Inszenierungen in "Girl Making". Eine von den
Mädchen betriebene Spekulation auf Sein, Selbst und Zukunft kommt in beiden
Studien deutlich zum Ausdruck und zeigt, inwiefern die Popkultur (oder auch:
expressive Phänomene der Populärkultur in einem weiteren Sinne) realistischer
Weise utopische Momente bereithalten kann: durch die Erzeugung eines sowohl
imaginären wie somatisch erlebbaren Erfahrungsraumes, der die alltagskulturellen
Konventionen situativ überschreitet und erweitert (und sie freilich auch reproduziert).
Moritz
Baßler (Münster): Futur II (Vollendete Zukunft). Von der
ästhetischen Lesbarkeit des Pop
Abstract:
Retromania war
das popdiskursive Schlagwort des letzten Jahres. Aber welcher spekulativen Zukunft
des Pop trauert Reynolds eigentlich nach – vielleicht doch eher den Jetpacks
als der Revolution? Selbst wenn Pop mit dem Ende der sozialistischen
Alternative seinen utopisch spekulativen Vektor verloren haben sollte (so
Joshua Clover in 1989), erinnert die Retro- Welle des neuen Jahrtausends
ja nicht nur an alte Versprechen, sondern löst sie womöglich bereits auf neue
Weise ein: Während die politischen und ökonomischen Zukunftsentwürfe sich eher
in den Bereich der Netzkultur verlagern, definieren, so die These, The Strokes,
The White Stripes, The Fratellis oder Vampire Weekend Pop erstmals dominant in
einer Sphäre des Ästhetischen. Hier die Wiederkehr des Gleichen zu beklagen,
ist in jeder Hinsicht inadäquat: Zu arbeiten wäre vielmehr an einer
Pop-Wissenschaft, die diese historisch epistemischen Übergänge beschreiben und
die alten und neuen Poptexte in ihrer ästhetisch kulturellen Komplexität lesen
kann.
3.2
Grauschleier (Ich kenne das Leben, bin im Kino gewesen)
HZ12
Moderation: Heinz-B. Heller
Annette
Brauerhoch (Paderborn): Im Dunklen liegen Illusionen und
Spekulationen im Kino
Abstract:
Dem Begriff der Illusion wohnt zunächst etwas Pejoratives
inne, für die Filmwahrnehmung ist sie konstitutiv. Sie gilt als eine Form der
Täuschung. Während die Apparatustheorie von einem fast vollständigen
Kontrollverlust im höhlenartigen Bauch des Kinosaals bei stark reduzierter
Motilität ausgeht, kann man mit dem Begriff der Illusion von einer Art der Sinnestäuschung
sprechen die nicht gleichzeitig eine epistemische Täuschung darüber enthält, dass
wir einen Film und keine Realität sehen. Illusion im Kino ist nicht nur eine
apparativ hergestellte Funktion des Projektionsmechanismus, sondern kann als
eine kompensatorische Phantasieleistung begriffen werden, mit der alles was an
Formen der Repräsentation defizitär ist ergänzt und vervollständigt wird.
Bezogen auf das Kino bedeutet das, dass das Leinwandgeschehen projektiv ergänzt
wird. Für diese Projektion bildet der Lichtstrahl, der den Raum durchquert
ebenso eine Rolle wie der Körper im Kinoraum. Dieser wird von Christiane Voss
als „Leihkörper“ in die Illusionstheorie eingeführt. Die kompensatorische Reaktion
kann als allgemeiner Automatismus bezeichnet werden, aber die Besetzungen und Projektionen
fallen individuell aus, haben mit subjektiver Geschichte und momentaner Gestimmtheit
zu tun. Wenn man den „filmischen Leihkörper“ auf die Technik des Apparats zurück
bezieht, so erzeugen Malteserkreuz und Flügelblende mehrfache Unterbrechungen
des Wahrnehmungsvorgangs und produzieren so durch den stroboskopischen Effekt
einen Dunkelanteil in der Projektion, der innere Erlebnisströme provoziert, die
mit den Filmbildern amalgamieren. So entsteht ein vorbewußter
Wahrnehmungsstrang, in dem die Welt im Dunklen liegt. Wenn sich dieser zum Teil
den physiologischen Eigenschaften des Mediums Films verdankt, dann lässt sich
nur spekulieren, was die Digitalität im Kino für die Illusionen des Publikums
bedeutet.
Rembert
Hüser (Minnesota): Mit Speck fängt man Mäuse
Abstract:
Der Film ist über alle Berge. Wir haben “eine bisher im
Filmrecht noch nicht dagewesene Lage” (Deutsche Zeitung). “Die weiteren 4
Kopien und das Negativ in deutscher Sprache sind bei der Kopieranstalt Rensch
sichergestellt. Der Schlüssel zu dem betreffenden Schrank befindet sich bei der
hiesigen Dienststelle” (Polizeirat Dr. Stüwert, Polizeipräsidium Berlin, zum
eingeleiteten Strafverfahren). Andere Schlüssel stecken woanders. Erinnert wird
sich im folgenden an sehr unterschiedliche Dinge. Kracauer benennt ein ganzes
Buch nach diesem Film, kriegt aber den Titel nicht richtig auf die Reihe. Nach
dem Krieg haben wir eine Spur in Acapulco. Ein amerikanisches Kittyhawk Jagdflugzeug,
eine Explosion am Strand, ein verwundeter Soldat, der auf uns zuläuft: nichts
davon findet sich im Film, aber er muss es sein. Auch wenn der Titel nicht
stimmt. Wie malen wir uns einen Film aus? Wie erinnern wir einen Film, den wir
nicht gesehen haben? Ich möchte mir in meinem Vortrag anschauen, wie Lobby
Cards auf Filme spekulieren. “Da ich daran gewöhnt war, mir die Filme der
Erwachsenen anhand der Fotos in den Schaukästen zusammenzureimen, genoß ich es
sogar, die Filme, die ich sehen durfte, nicht zu verstehen, da ich mir so
jedesmal einen anderen vorstellen konnte, auch wenn der gezeigte Film immer
derselbe war” (Julio Llamazares, Stummfilmszenen, S. 48). War er natürlich
nicht.
Brigitte
Braun (Trier): Das patriotische Kinopublikum –
Spekulationen einer Besatzungsmacht in den 1920er
Abstract:
Als alliierte Truppen 1919 die linksrheinischen Gebiete
Deutschlands besetzten, sicherten sie sich dort auch die Kontrolle über die
deutschen Kinos und die dort laufenden Filme. Das ist nicht verwunderlich,
hatte sich doch während des Ersten Weltkriegs die Idee der starken Wirkungsmacht
des Films sowohl beim Militär als auch bei den Politikern der Krieg führenden
Nationen durchgesetzt. Vor allem die französische Besatzungsmacht im besetzten
Rheinland fürchtete Vergemeinschaftungsprozesse deutscher Zuschauer im dunklen
Kinosaal und spekulierte über die Macht der Bilder. Welche Auswirkungen würden
Filme haben, die in einem unter Fremdherrschaft stehenden Gebiet deutsche
Soldatenherrlichkeit im Kaiserreich und tapfere deutsche Helden des Ersten
Weltkriegs zeigten? Musste das Wiedersehen deutscher Uniformen auf der Leinwand
nicht zwangsläufig zu Beleidigungen der eine verhasste fremde Uniform tragenden
Besatzungssoldaten kommen, ja sogar Tätlichkeiten oder Aufständen gegen diese
führen? Sicherheitshalber musste zumindest das Spielen von Marschmusik und das
Singen patriotischer Lieder im Kinosaal unterbunden werden, um die Zuschauer emotional
nicht auch noch vorsätzlich aufzuwühlen. Für die deutschen Behörden und die von
Filmverboten betroffenen Firmen waren diese Überlegungen unverständliche
Spekulationen, die jeder Grundlage entbehrten. Was machte die Zuschauer im
Rheinland so gefährlich und außerordentlich, dass Filme wie UNSERE EMDEN oder
DER WELTKRIEG zwar deutschem, britischem, amerikanischem und sogar französische
Publikum - also auch mit Erfolg den ehemaligen Feinden - vorgeführt werden durfte,
diesen aber nicht? Der Vortrag möchte dieser Frage auf Grundlage umfangreichen
Quellenmaterials aus deutschen und französischen Archiven aus Sicht der
Publikums- und der Propagandaforschung nachgehen und Spekulationen über den so
besonderen Ort Kino aufdecken.
Brigitte
Weingart (Bonn): Raum für Spekulationen: Filmische
Selbstreflexion und affektive Arbeit
in R. W. Fassbinders Warnung vor einer heiligen Nutte
Abstract:
Wenn, wie es im Call for Paper für die Tagung heißt, für
medientheoretische Spekulationen zu veranschlagen wäre, dass sie aufgrund ihrer
medialen Bedingtheit ihrerseits 'spekuliert' werden, so gilt dies umso mehr für
Filme übers Filmemachen. Was der Blick hinter die Kulissen zu sehen gibt, sind
gerade nicht die Produktionsbedingungen, unter denen der Film, der diese Perspektive
anbietet, selbst entstanden ist – darüber, wie realitätsgetreu die Spiegelung
ist, darf wiederum spekuliert werden. Bei R.W. Fassbinders sogenanntem
"Schlüsselwerk" Warnung vor einer
heiligen Nutte (1971) scheinen sich die Spekulationen über mögliche
Ähnlichkeiten mit der real existierenden "Fassbinder-Familie" – weil
offensichtlich – beinahe zu erübrigen. Doch wie sich in dieser Überblendung von
Fakt und Fiktion (die sowohl die Produktion wie die Rezeption kennzeichnet)
bereits andeutet, hat man es hier mit einer hochgradig stilisierten Pseudo- Spiegelung
zu tun, die das Filmset selbst als einen Raum für Spekulationen darstellt: Was
sich hier beobachten lässt, ist das Wuchern einer Kommunikationsform, die sich
– wie der Klatsch und das Gerücht – aus der Unsicherheit speist und deshalb
besonders anfällig ist für absichtsvolle Auslegungen und emotionsbedingte
Verzerrungen dessen, was ist und sein könnte. Der Drehort für einen Film
"gegen staatlich sanktionierte Brutalität" wird als soziales Labor in
den Blick gerückt, in dem Arbeitsprozesse ihrerseits von Machtspielen,
ökonomischen Bedingungen und Psychodynamiken durchsetzt sind. In dieser
Reflexion erscheint das Filmset als Schauplatz einer affektiven Arbeit, zu der
auch und vor allem das Spekulieren gehört: darüber, wer mit wem (und ob es sich
lohnt), ob und woher das Geld kommt, wie man (nicht nur vor der Kamera) eine
gute Figur macht, ob das Ganze irgendwie sinnvoll ist oder wenigstens vorübergehend
befriedigend, wie es weiter geht etc. Die pathetische Metapher vom Filmgeschäft
als Prostitution wird in ein Szenarium übersetzt, das den zweischneidigen
Umgang mit affektiven Ökonomien registriert, ohne die Anziehungskraft der
"heiligen Nutte" Film zu leugnen. Damit stellt sich die Frage,
inwiefern Fassbinders doppelte Spekulation als Warnung vor der Filmbranche als
einer Art 'Avantgarde' prekärer Arbeitsverhältnisse gelten kann, in der die
Identifikation mit einer Arbeit, die 'mehr ist als ein Job', Selbstausbeutung
und Dauerflexibilität als Schlüsselqualifikationen (sowie erfolgreiches
Spekulieren als soft skill) kultiviert
werden.
3.3
Workshop „Internationalisierung der Filmwirtschaft“
HZ13
Julian
Hanich (Groningen)
Jeroen Sondervan (Amsterdam University Press,
Amsterdam)
Vinzenz
Hediger (Frankfurt)
Erica
Carter (London)
3.4 Spekulative Latenz.
Kartographische Übungen zur modernen Esoterik
HZ14
Moderation: Claus Pias
Eva
Johach (Zürich): Exopsychology. Timothy Learys esoterische Medientheorie
Timothy
Leary gilt als einer der Hauptprotagonisten der psychedelischen Bewegung der
Hippie-Ära. Weniger bekannt hingegen ist, dass Leary sein Plädoyer für eine
dogeninduzierte Bewusstseinserweiterung in den 1970er und 80er Jahren zu einem
esoterischen System erweitert hat, dem er den Namen „Exo-“ bzw. (so der
reformulierte Buchtitel von 1987) „Info-Psychology“ gegeben hat. Ähnlich wie
John Lilly, der 1972 von einer Reprogrammierung des „human bio-computer“
träumte, entwirft Leary darin die Vision für ein enhancement unserer neuronalen und genetischen Regelwerke: ein nach
acht Perioden und 24 Stufen differenziertes Modell einer schrittweisen
Aktivierung unserer neuro-elektrischen „Schaltkreise“.
Ziel ist nicht weniger als die Schaffung einer neuen Spezies, die
überhaupt erst den Namen Mensch verdient: die zu neuer kosmischer
Resonanzfähigkeit erwachte „quantum person“. Diese Emanzipation wäre die
konsequente Realisierung eines „heisenbergschen“ Bewusstseinszustands, d.h. der
psychischen Umsetzung des quantenphysikalischen Wissens; zugleich aber –
typisch für die Esoterik des New Age – sollen damit für alle jene höheren
spirituellen Bewusstseinsstufen erreichbar werden, die die Weisen aller
Weltreligionen seit Urzeiten erfahren haben. Learys Entwurf erweist sich
gleichsam als das esoterische Komplement zu einer Psychologie, die sich mit dem
Aufkommen der Kybernetik daran gewöhnt hat, die internen Prozesse des Gehirns
nach dem Modell des Computers zu beschreiben. Mitten aus dem Geist der
Kybernetik heraus entsteht hier eine techno-spiritualistische Utopie, in der
sich auf eigenartige Weise szientistische Machbarkeitsphantasien mit
anarchistisch-individuellen Widerstandsutopien verschränken. Von dieser
versponnenen Vision eines neuronalen enhancement her ist aber, so die
Hypothese, eine Utopie des Medialen zu erschließen, die zur techno-imaginären
Genese des Internet gehört und in den abgedroschenen Formeln eines McLuhan
ihren schwachen Nachhall findet.
Bibliographie:
Davis, Eric,
„Techgnosis. Myth, Magic + Mysticism in the Age of Information“, New York 1998.
Johach, Eva, „Mind Spaces. Verlängerte mediale Reichweiten
zwischen romantischem Somnambulismus und psychedelischer Revolution“, in: Eva
Johach/Diethard Sawicki (Hg.): Übertragungsräume. Medienarchäologische
Perspektiven auf die Raumvorstellungen der Moderne. Ludwig Reichert Verlag
Wiesbaden 2012 (im Erscheinen).
Leary, Timothy,
„Info-Psychology [Revision of Exo-Psychology]. A Manual on the Use of the Human
Nervous System According to the Instruction of the Manufacturers“, Las Vegas
1987.
Lilly, John, „Programming and Metaprogramming the Human
Biocomputer“, New York 1972.
Sprenger, Florian, „From
Psychedelics to Cybernetics. Wie
Timothy Leary und Marshall McLuhan sich den Umgang mit Medien beibrachten“, in:
Recherche. Zeitung für Wissenschaft.
http://www.recherche-online.net/marshall-mcluhan-timothy-leary.html.
Niels
Menzler (Bochum): Die Geheimnisse des Bodens. Von Wünschelruten,
Seismographen und Tribolumineszenz
Als am
zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004 ein schrecklicher Tsunami über
Südostasien hereinbricht, kostet das viele Tausend Menschen das Leben. Wie bei
solchen Katastrophen nicht ungewöhnlich, ranken sich die Legenden darum, dass
im Unterschied zu den Menschen die meisten Tiere von dem Unglück verschont
geblieben sein sollen, weil sie rechtzeitig die Flucht antraten. Haben sie das
Beben erahnt und nutzten die Latenzzeit zur Flucht? Konnten Tiere im Vorhinein
etwa feine Vibrationen des Bodens spüren (sogenannte P-Waves)? Oder war hier
etwas anderes am Werk? Der Boden, die Erde, scheint mit leisen, infinitesimalen
Äußerungen von seinen Geheimnissen zu künden. Während Wissenschaftler etwa mit
Seismographen Bodenerschütterungen messen und mit den gewonnenen Daten
Prognosen über zukünftige Beben erstellen, glauben Esoteriker mit verschiedenen
Medien das aufspüren zu können, was der Boden in ihren Augen jenseits des
sinnlich Wahrnehmbaren und physikalisch Messbaren von sich gibt. Seit
Jahrhunderten versucht man mit gegabelten Ruten Metalle oder Wasseradern im
Boden aufzuspüren. Die Disziplin der Radiästhesie kapriziert sich unter anderem
auf das Spüren von schädlichen „Erdstrahlen“; beschäftigt sich mit Feldern und
Gittern, die den Boden durchziehen sollen. Die esoterischen Diskurse werden
mitunter politisch, etwa wenn es um die Bebauung von Grundstücken geht, oder
wenn irakische Sicherheitsbehörden eine High-tech-Wünschelrute aus britischer
Produktion zum Suchen nach Sprengstoff einsetzen. Der Vortrag will eine kurze
Skizze davon zeichnen, wie Wissenschaft und Esoterik die Zeichen des Bodens
deuten und wahrnehmen wollen.
Bibliographie:
Ikeya, M., „Earthquakes and Animals.
From Folk
Legends to Science”, Singapore 2004.
Pohl,
Gustav Freiherr von, „Erdstrahlen als Krankheitserreger“, Diesen bei München 1932.
Prokop,
Otto und W. Wimmer, „Wünschelrute, Erdstrahlen, Radiästhesie. Die okkulten
Strahlenfühligkeitslehren im Lichte der Wissenschaft“, 3. Aufl. Stuttgart
1985.
Schall,
R.B., “An Evaluation of the Animal-behavior theory for earthquake Prediction”, in:
California Geology 41 (1988), Nr. 2, S. 41-45.
Robert Matthias Erdbeer (Münster): Kosmotechnik
und die Saturnalien der Kartographie
Moderne Esoterik ist ein
parawissenschaftliches Projekt. Die Orientierung an den Resultaten „sämtlicher
exakter Forschungszweige“ war die klare Losung, die der Wiener Ingenieur Hanns
Hörbiger im Jahre 1913 seiner ‚Welteislehre‘ mitgegeben hat. Die Pointe dieser
fast 800 Seiten starken „allumfassenden Theorie des Himmels und der Erde“ ist
ihr Bildprogramm, die ‚kosmotechnische Zeichnung‘, die den hochspekulativen
Daten- und Thesenbestand auf über 200 großformatigen, vom Autor selbst in
aufwendiger Technik produzierten Karten „in gedrängter Form“ zusammenfasst. Die
Bildgebung wird hier zum eigentlichen Argumentverfahren einer Welterklärung,
deren parawissenschaftliches Design ein esoterisches Erkenntnisziel verfolgt.
Im Bildprogramm verbirgt sich nämlich – so die These meines Beitrags – das
Arkanum der Glazial-Kosmogonie, des sog. „Hauptwerks“, das das von der wissenschaftlichen
Astronomie zutiefst erschütterte Verhältnis zwischen Mensch und Kosmos im
Latenzraum seiner unergründlichen (und unabschließbaren) Kartographie erneuern
will. Es ist das kartographisch Unentschlüsselbare, das in seiner gleichermaßen
epistemischen wie bildästhetischen Opazität zum esoterischen Versprechen wird –
als Wissenschaftskritik. Der Heilsraum dieses Bildprogramms ist ein Latenzraum,
dessen kosmische Text-Bild-Hybriden nicht gelesen, sondern adoriert und
meditiert sein wollen. Die ‚Lektüre‘ dient somit – als Selbsttechnologie des
suchenden, vom Wissenschaftsdiskurs enttäuschten Individuums – der esoterischen
Konversion. Spekulativ ist dieses Unternehmen im vierfachen Sinn: Es exploriert
und simuliert die Virtualität der Wissenschaftsverfahren im Bereich des
schlechthin Großen (Kosmos), es entwickelt mittels seiner volatilen
Zeichenlogik eine dunkle (und gerade dadurch marktgängige)
Popularisierungsform, es transzendiert die epistemische Modellbildung der
Einzeldisziplinen und es reflektiert die medialen Strategien seiner eigenen
prekären Performanz.
Bibliographie:
Erdbeer, Robert Matthias, „Die Signatur
des Kosmos. Epistemische Poetik und die Genealogie der Esoterischen Moderne“,
Berlin/New York 2010.
Giehm, Gerhardt, „Welterkenntnis und
Weltenbau. Philosophisches zur Glazialkosmogonie“, Leipzig 1928.
Hörbiger, Hanns und Philipp Fauth,
„Hörbigers Glazial-Kosmogonie. Eine neue Entwicklungsgeschichte des Weltalls
und des Sonnensystems […]“, Unveränderter Neudruck mit 212 Figuren, Leipzig
1925 [11913].
Valier, Max, „Anleitung zum Lesen
kosmotechnischer Zeichnungen“, Leipzig 1925.
Wessely, Christina, „Welteis. Die
»Astronomie des Unsichtbaren« um 1900“, in: Dirk Rupnow et al., Hrsg.,
Pseudowissenschaft. Aspekte des Nichtwissens in der Wissenschaftsgeschichte,
Frankfurt am Main 2008, S.163–193.
Dennis
Niewerth (Bochum) Rechnend zu den letzten Dingen. Über die Mathematik der
Apokalypse
Im Jahre
1994 nahm der Physiker Frank J. Tipler nichts geringeres für sich in Anspruch,
als den mathematischen Beweis für die Wahrheit der christlichen Heilslehre
erbracht zu haben. Das Schicksal des Universums, so die These seines
500-seitigen Hauptwerkes The Physics of
Immortality, sei es, in seinen letzten Augenblicken zu einem gewaltigen
Computer zu werden, dessen Rechengeschwindigkeit die Zeit selbst überholt – und
in welchem in Form einer virtuellen Simulation sämtlicher möglicher
Quantenzustände das Reich Gottes verwirklicht sein werde. Tiplers an
Begrifflichkeiten Teilhard de Chardins anknüpfende Omega Point-Theorie steht im Zeichen einer Strömung in der
theoretischen Mathematik und Physik, welche die Grenzen zwischen Wissenschaft,
Pseudowissenschaft und Offenbarungslehre verwischt. Die Quantenphysik, Alan
Turings Theorien zur künstlichen Intelligenz, Konrad Zuses Idee vom 'rechnenden
Raum' und John von Neumanns Überlegungen zu selbstreplizierenden Mikromaschinen
klingen in ihr ebenso an wie das Mooresche Gesetz zum exponentiellen Wachstum
der Rechenleistung von Prozessoren. Die mathematische Formulierbarkeit
kosmischer Szenarien gebiert hier eine merkwürdige szientistische Esoterik,
welche zwar mit wissenschaftlichem Gestus ihren Blick auf die spekulativen
Möglichkeitspotentiale der Zukunft richtet, dabei aber letztlich in eine
heilsgeschichtliche Kosmologie des Abschlusses und der Schicksalhaftigkeit
verfällt. Der Vortrag möchte diese Verselbständigung von Machbarkeitsphantasien
und Notwendigkeits-hypothesen, im Zuge welcher die Mathematik zur
Arkandisziplin wird, genauer in den Blick nehmen und an ihr eine Ausreizung der
begrifflichen Grenzen einer „modernen Esoterik“ versuchen.
Bibliographie:
Chardin, Pierre Teilhard de,
“L'Avenir de l'Homme, Paris (Seuil) 1959.
Kurzweil, Ray, “The Singularity Is
Near: When Humans Transcend Biology”, New York (Penguin/Viking) 2005.
Schmidhuber, Jürgen, “New Millenium
AI and the Convergence of History”, http://arxiv.org/pdf/cs/0606081v3.pdf,
abgerufen am 02.02.2012.
Tipler, Frank J., “The Physics of
Immortality. Modern Cosmology, God and the Resurrection of the Dead”, New York
(Anchor Books) 1994.
Zuse,
Konrad, „Rechnender Raum“, Braunschweig (Vieweg) 1969.
Stefan
Rieger (Bochum): Expeditionen ins
Feldall. Esoterik und die Kartierung des Unkartierbaren.
Spekulationen
zielen ins Große oder aufs Ganze. Unbescheidenheit ist die Folge, wenn man sich
nicht an die Kleinteiligen des Wissens und etablierter Wissensformate halten
muss, wenn man zügellos und ungebremst argumentieren darf. Eine der großen
Fragen zielt auf den Kosmos, auf das Universum. Dabei machen esoterische
Modelle von sich reden, die auf ihre Weise erklären, was die Welt im Innersten
zusammenhält. Im Anschluss an Theorievorgaben der Naturwissenschaften, etwa der
Quantenphysik, und im Rückgriff auf Medientechniken wie der Holographie kommt
es zu Hybridformen der Welterklärung, die in spirituellen Strömungen wie der
New Age-Bewegung ihre Popularisierungen erfuhren.
Die
Versatzstücke, die dabei in Vermischung geraten, sind vielfältig: Sie umfassen
Theorieangebote wie das des morphogenetischen Feldes (Rupert Sheldrake), die
holonomische Theorie des Bewusstseins (Stanislav Grof), die Theorie des
Embryonalen Feldes (Alexander Gurwitsch), die Theorie der Lebensfelder (Harold
Saxton Burr) – und sind so in der
Lage, in selbsternannter Interdisziplinarität zwischen theoretischer Physik,
universaler Biologie und transpersonaler Psychologie zu argumentieren. Derlei
Überlegungen führen zu sonderbaren Topologien, zu Orten, die mit gängigen
Raumordnungen (Utopie, Heterotopie) kaum zu fassen und schon gar nicht zu
kartieren sind. Was den diversen
Expeditionen ins Feldall bei aller Heterogenität gemeinsam ist, ist der
spekulative Zug, ist das Engagement für ein großes gemeinsames Ganzes. Die
Latenzräume spekulativ-esoterischen Wissens ermöglichen Konstellationen sui
generis, die sich nicht in kurioser Kasuistik erschöpft: Wenn die esoterische
Steinheilkunde unserer Tage die Biophotonen-Aufzeichnungstechnologie Fritz Popps
bemüht, ist das einer solchen Expedition ins Feld-All geschuldet, hat also
Methode.
Bibliographie:
Burr, Harold
Saxton, „The Fields of Life. Our Links with the Universe“, New York 1972.
Sheldrake, Rupert, „Das schöpferische
Universum. Die Theorie des morpho-genetischen Feldes“, München 1984.
Bohm, David, u.a., „Das holographische
Weltbild. Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zu einem ganzheitlichen
Weltverständnis – Erkenntnisse der Avantgarde der Naturwissenschaftler“, Ken
Wilber (Hrsg.).
Rieger, Stefan, „Weltgedächtnis. Zur
Universalisierung von Übertragungsräumen“, in: Eva Johach, Diethard Sawicki
(Hrsg.), Übertragungsräume.
Anderson,
Robert M., „A Holographic Model of Transpersonal Consciousness“, in: The
Journal of Transpersonal Psychology, Vol. 9, No. 2, 1977, S. 119-128.
3.5 Bildexperimente
HZ15
Moderation: André Wendler
Dennis Göttel
(Weimar): Der
Zapruder-Film: Mutmaßende Filmanalyse
Abstract:
Ein 8mm-Film des Damenschneiders Abraham Zapruder gilt als
wichtigstes Dokument des Mordes an John F. Kennedy, anhand dessen offizielle
Geschichtsschreibung ebenso wie andere Theorien den Hergang des Attentats zu
rekonstruieren suchen. Gleichzeitig ist der Zapruder-Film selbst Objekt von
Mutmaßungen. Wo medienontologisch (fotografischer Index) und gattungstheoretisch
(Amateur) seine Evokation des Realen behauptet wird, ist die Geschichte des Films
geprägt von Zensur, Duplikaten und Vorwürfen der Manipulation. Dieser
widersprüchliche Komplex sieht sich etwa in Romanen von Don De- Lillo, J. G.
Ballard oder Stephen King verdichtet. Dabei zeigt sich, dass in den Praktiken
mit dem Film medienhistorische und -institutionelle Topoi komprimiert sind.
Denn es kollidieren zwei verschiedene Umgangsweisen mit dem Film, die nicht
gleichzeitig geschehen können: Betrachtung und Nummerierung des Filmstreifens
wie dessen Vorführung vor einem Publikum. Jenseits des Vorwurfs der
Manipulation gilt es, die je spezifsche Präsentation als etwas in den Blick zu
nehmen, das dem Film nicht äußerlich, sondern ko-konstituierend ist. Die
Spekulation ist abhängig von einem Sehen, welches ein Dispositiv hat. Oliver
Stones JFK (1991), der wahlweise selbst als haltlose Spekulation oder als
Verhandlung historiografischen Begehrens gilt, ist ein Aufführungsort des
Zapruder-Films: Mittels dessen Projektion werden Gericht und Kino verschaltet.
JFK ist hierbei Reenactment der ersten offiziellen Aufführung des Films 1969.
Im Vergleich von Filmsequenz und Gerichtsprotokoll sieht sich das Beharren auf
das Indexikalische konfrontiert mit den Modellen, Techniken und Apparaten, die
den Film vermitteln müssen. Es kommt in beiden Dispositiven (des Films und des
Gerichts) zur phantasmatischen Verschaltung von Kaderausbelichtung und
Projektion, von Schneidetisch und Leinwand. Hierin liest sich die Praxis mit
dem Zapruder- Film als eine Allegorie auf die Methoden der Filmanalyse selbst.
Daniela Wentz (Weimar): „After all, nothing but guessing.“ Zum
Motiv des Diagramms in der Ermittlerserie
Abstract:
Die Abduktion sei die einzige logische Operation, die irgendeine
neue Idee einführe, so ihr Erfinder Charles Sanders Peirce. Während die
Deduktion bekanntermaßen vom Allgemeinen auf den Fall schließt und die
Induktion vom Fall auf das Allgemeine, besteht die Abduktion im Aufstellen
einer Hypothese, aus der deduktiv weitere Konsequenzen abgeleitet werden können,
welche dann induktiv bestätigt bzw. widerlegt werden können. Spekulativ ist der
Prozess der Abduktion genau deshalb, weil er darin besteht, lediglich
subjektive Assoziationen in einer Art rationalisiertem Rateprozess in eine
plausible Erklärung zu überführen. Die Abduktion ist in der Ansicht Peirces
„after all, nothing but guessing“. Interessant aus medienwissenschaftlicher Perspektive
erscheint die Abduktion aus mindestens drei Gründen: erstens lässt sie sich
beschreiben als „der erste Schritt aller Prozesse der Zeichendeutung, die eine
Kopplung von Beobachtung und Theorie vornehmen“ (Wirth). Zweitens behauptet sie
eine notwendige Medienabhängigkeit des Prozesses der Wissensgenerierung. Denn
in ihrem Zentrum steht die Operationalisierung und Transformierung einer
medialen Form: eines Diagramms. Letzteres bildet die Hypothese des
Schlussprozesses, der sich in und durch seine Manipulation und Umformung
vollzieht. Und drittens schließlich hat der Abduktionsprozess einen
privilegierten medialen Ort: die Ermittlerserie, in der das Diagramm und seine
Manipulation nicht nur den Verlauf der Ermittlung bestimmen, sondern auch die
temporale Logik der Serie ihrem Imperativ unterwerfen.
André
Wendler (Weimar): Dinosaurier-Bilder
Abstract:
Beinahe so lang es das Kino gibt, hat es Bilder von
Dinosauriern produziert. Die Kinosaurier treten am Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts an die Seite der wissenschaftlichen und populären Darstellungen,
die das neunzehnte Jahrhundert in allen künstlerischen Techniken produziert hat
und erfüllen diese mit Leben, d. h. Bewegung. Jede Darstellungen von
Dinosauriern ist mit einem unhintergehbaren und letztlich nicht verifizierbaren
Zwang zur Spekulation versehen. An die Seite der paläontologischen
Entdeckungsgeschichte der prähistorischen Tiere tritt damit die Geschichte ihrer
Bilder seit dem neunzehnten Jahrhundert. Das populäre und wissenschaftliche Wissen
über Dinosaurier lässt sich von den Methoden dieser Bilderzeugung nicht
trennen. W. J. T. Mitchell ist deswegen sogar soweit gegangen, dem Status der
Dinosaurier als kulturellen Imaginationen einen größeren Wirklichkeitswert
beizumessen, als den ausgestorbene Tieren als wissenschaftlichen Fakten. Steven
Spielbergs Jurassic Park (USA, 1993) lässt sich als ein Film lesen, der
einerseits mit Nachdruck bewegte und »realistische« Dinosaurierbilder als the
real thing zelebriert und andererseits die Geschichte und den onto-epistemologischen
Status dieser Bilder reflektiert. John Hammonds Satz: »We’ve made living
biological attractions so astounding that they’ll capture the imagination of
the entire planet.«, lässt sich demnach auf die echten Saurier im diegetischen
Jurassic Park ebenso wie die Bilder des gleichnamigen Films beziehen. Jurassic Park
lässt sich damit als ein zugleich spektakuläres und spekulatives Wissensobjekt
und -subjekt begreifen, in dem sich die Bild und Abgebildetes gegenseitig
stabilisieren und hervorbringen.
3.6
Welt-Spekulationen in Photographie, Film, Sitcom, Werbung und Google
Earth
HZ10
Moderation: Andreas Jahn-Sudmann
Bernhard
Dotzler (Regensburg): „Das Kino schafft für unseren Blick
eine Welt...“ – Ausschnitte aus der Geschichte von Realität und Totalität
Abstract:
"Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf
unser Begehren zugeschnitten ist. Die Verachtung [Le mépris] ist
die Geschichte [histoire] dieser Welt", erklärt oder verrätselt der genannte,
mythische Film zu Beginn sich selbst und zeigt im weiteren das Begehren als die
zwischengeschlechtliche absolute, monetär aber ver- und zerstörte Liebe
einerseits wie als monetär gefährdete, aber cineastisch unbeirrbare Liebe zum
Film andererseits. Letztere tritt auf als der projektierte Film im Film, der
den abendländisch-antiken Mythos schlechthin, die Odyssee, zum Inhalt
haben soll, und dieser Spur will der hier in Aussicht gestellte Beitrag
dahingehend folgen, daß sein Proömium eine antike Weltübersicht, Philons Reiseführer
zu den Sieben Weltwundern, als den Ausgangspunkt seiner weiteren
Überlegungen in Erinnerung rufen wird. Die dort zu entdeckende Urszene des
Begehrens, die Mühsal der Welterschließung durch Autopsie zu ersetzen durch
eine medial erzeugte Synopsis, soll dann im Hinblick auf ihre Wiederholungen (ihren
Wiederholungszwang) in Szenarien der Welterzeugung durch die Medien der Moderne
untersucht werden. Beispiele hierfür sind: die Nahtstelle zwischen
Globalisierungs- und Medientheorie im Manifest der kommunistischen Partei und
seiner Diagnose, daß die Universalie (mit Luhmann wie McLuhan: das Medium) Geld
"sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde" schafft; die Reflexe der
(wie zur Bestätigung des Manifests ins Leben gerufenen) ersten
Weltausstellungen (London 1851, [Paris 1855], London 1862) im Photographic
Journal und dessen Entwürfen einer photographische Vermessung und
Inventarisierung der Welt; sowie schließlich deren sowohl photographische als
auch kinematographische Adaption samt zugehöriger Theoretisierung in Projekten
wie Albert Kahns Archives de la planète und Reflektionen/Spekulationen
wie Rudolf Arnheims Weltbild und Filmbild (aber auch an Bazin, von dem Die
Verachtung ihr Motto hat, und an Cavells World Viewed ist natürlich
zu denken).
Astrid
Freudenstein (Regensburg): Welt- (der) Werbung: Spekulationen im
Reich der Wünsche
Silke
Roesler-Keilholz (Regensburg):
Abstract:
Werbung spekuliert. Sie beobachtet menschliche Empfindungen
und Wahrnehmungen, leitet daraus Strategien ab, spiegelt Wünsche und kreiert
neue Bedürfnisse. Weil in der Reklame das beworbene Produkt und das umworbene
Publikum zu einem neuen Ganzen werden, das es unmöglich macht, zu messen, ob
letztlich das Überzeugtsein oder doch das Unterbewusste kaufentscheidend war,
muss auch die Werbewirkungsforschung häufig im Spekulativen bleiben. In jedem
Fall spekuliert Werbung auf unser Grundempfinden, dass es immer noch ein wenig mehr
sein darf. Dass Werbung dabei zur Hyperbel neigt, ist angesichts ihrer
kommerziellen Motive legitim, auch ein Allgemeinplatz. Dass sie mithin die
ganze Welt für sich in Anspruch nimmt, um meist doch recht überschaubar
Alltägliches zu verkaufen, trägt hingegen durchaus Züge der Anmaßung. „Die
ganze Welt in Deiner Hand“ – so warb ein Mobilfunkkonzern vor wenigen Jahren
für sein neues web2.0-Handy und lieferte auch gleich die griffige Erklärung,
was unter diesem Weltganzen zu verstehen sei – nämlich music, shopping,
information, entertainment. Ein Mobiltelephon bläht sich auf zur Welt im
Ganzen – die Welt wird heruntergebrochen auf das Vergnügliche wie auf das
handliche Format eben dieses Mobiltelephons. Es bleibt zwangsläufig bei der
Verheißung, das Versprechen einer ganzen Welt erweist sich – eigentlich selbstverständlich
– als ein Werbegag. Wer das Gerät in Händen hält, wird damit nicht der ganzen
Welt habhaft, und noch weniger wird er sie mit Hilfe des Smartphones besser
begreifen können. Der Beitrag stellt sich der Frage, mit welchen Bildern der
Welterzeugung Werbung operiert und auf welche Impulse die Reklame hier
spekuliert.
„Maps that Watch“. Kartographie
zwischen Überwachung und Spekulation am Beispiel von Google Streetview
Abstract:
Seit den 1960er Jahren schickt die NASA sogenannte SPOT
(Système Probatoire d’Observation de la Terre)-Aufnahmen mit immer größerer
Detaildichte aus dem Weltraum zur Erde. In der Folge ersetzt seit etwa zwanzig
Jahren das computerisierte System der Darstellung und Analyse geographischer
Daten GIS (Geographical Information System) die papierne Landkarte. Damit bilden
Satellitenbilder aktuell den technischen End- bzw. Höhepunkt der Stadt- und Landschaftskartographie.
Vertreter geographisch ausgerichteter Fachkreise propagieren, dass Satelliten
‚lebendigere’ Bilder als frühere Kartenblätter liefern würden. Schließlich
seien Satellitenaufnahmen nicht (nach-)gezeichnet, sondern dem photographischen
Abbild ähnlich und würden somit ein ‚realitätsgetreues’ Bild der Erdoberfläche
vermitteln. Im Anschluss an diese aus medienwissenschaftlicher Sicht
problematische Haltung möchte der Vortrag der Annahme nachgehen, inwiefern
Karten im Zuge der Entwicklung vom Kartenblatt zum Satellitenbild zunehmend zu
„Maps that Watch“ (Monmonier 2002) werden. Einerseits beobachten und speichern
Satellitenbilder unsere Umgebungswelt andererseits prägen sie die mentale
Landkarte des Rezipienten und beeinflussen diesen. Ob sich die Geschichte der
Kartographie zunehmend als Mediengeschichte der Überwachung und damit immer
weniger als Geschichte der Spekulation erzählen lässt, soll hinterfragt werden.
Als Fallbeispiel dient Google Streetview, welches aktuell den Fluchtpunkt
der Technisierung des Mediums Karte darstellt. Die Dichotomien von Raum und Ort
sowie Aktivität und Statik scheinen in diesem aktuellsten Angebot von Google
Earth aufgebrochen zu werden. Durch eine Fruchtbarmachung der De
Certeauschen Raumbegriffe soll das spekulative Potential von Google
Streetview analysiert und reflektiert werden.
Herbert
Schwaab (Regensburg): Überwachen und Lachen. Televisuelle
und filmische Weltbezüge der Sitcom
Abstract:
Dieser Beitrag beschreibt die Veränderungen der Fernseh- und
der Sitcomästhetik im Zusammenhang einer von dem Filmphilosophen Stanley Cavell
skizzierten Unterscheidung zwischen Film und Fernsehen. Film schafft das
realistische Bild einer Welt, das aber dennoch von unserer Realität abgesetzt
erscheint und immer eine (vergangene) Welt als Ganzes meint. Dagegen richtet
sich mit dem Fernsehen ein kontrollierender Blick auf Ausschnitte der Welt, um uns
der Präsenz der Welt zu versichern. Die klassische Sitcom gibt den damit
verbundenen Eigenschaften der liveness und des monitoring durch
ihre Überwachung eines Bühnenareals Bedeutung. Neuere Entwicklungen verändern
jedoch diesen Weltbezug: Welt wird durch den restrospektiven Blick in die
Vergangenheit versetzt (wie in How I Met Your Mother). Der eher cinematische
single camera modus setzt eine Welt als Ganzes aus einzelnen Einstellung
zusammen (wie in Scrubs). Die Sitcom verändert sich von einem Format,
das als alltagsnahes und auf die Gegenwart bezogenes Medium Mutmaßungen über
die Welt und das Zuhause ihrer Zuschauer anstellt, zu einem Format, das in
einer hybriden Mischung aus Kopräsenz und Distanz auf eine verschobene Weise
auf die Welt Bezug nimmt und die Welt vom Zuhause nach draußen verschiebt.
Dabei stellt sich auch die Fragen, ob die Sitcom als Live-Medium eine von John
Ellis beschriebene Funktion des witnessing im Fernsehen erfüllt, während
neuere ‚hypermediatisierte‘ Formate den Akzent auf eine bewusste Konstruktion
von Welt durch das Medium setzen. Der Beitrag untersucht dafür Weisen der
Welterzeugung in unterschiedlichen Sitcomformaten.
3.7
Mediatisiertes Lernen durch „Serious
Games“ – Fakt oder Fiktion?
NG 1.741a
Moderation: Niels Werber
Jörg
Müller-Lietzkow (Paderborn): Klassifizierung
(Zweistufenmodell) und Produktionsweisen von Serious
Games
Abstract:
Innerhalb der letzten Jahre fand eine rege und nicht immer
sachliche Diskussion über Serious Games statt. Nicht selten wurde dabei eine
Engführung auf den Kern verpasst. Vielmehr wurde spekuliert, dass „Serious
Games“ als Synonym für Lernen stehen (Prensky 2001, Gee 2007a und 2007b). Wie Müller-Lietzkow
& Jacobs (2011) aber zeigen konnten, liegt eigentlich ein Zweistufenmodell
der Klassifizierung den Serious Games zu Grunde. Der Vortrag setzt an diesem Modell
an und bietet eine Extension derart, als dass neben der Präsentation des
Modells auf die konkreten Produktionsbedingungen und Folgen für die Industrie
eingegangen wird. Daraufhin wird auch sehr schnell offenkundig, warum aus einer
Medienperspektive die Logik des Lernens durchbrochen wird. Die „Spekulation“
des Wirkungsgrades der Serious Games kristallisiert sich daher nicht nur auf
der Ebene der Nutzer, sondern eben auch auf Seiten der Anbieter, welche aus
Marketingperspektiven nicht selten opportunistisch auf den ‚rollenden Zug
aufspringen‘ (vgl. Dyer-Witheford & de Peuter 2009, vgl. auch Bogost 2007).
Auf Basis eigener und fremder Entwicklungsprojekte wird im Zusammenhang mit
einer kritisch- rationalen Betrachtung dann eine Bilanz gezogen, die auf die
Frage nach dem Risikogehalt der Produktion von Serious Games als Wirtschafts-
und Lehr-Lern-Mittel ausgerichtet ist. Die „Spekulation“ seitens der Anbieter
liegt nämlich, wie dem Zweistufenmodell zu entnehmen ist, nicht zuletzt in einer
Gewinnerzielungsabsicht, die wiederum nicht zwingend mit dem vermuteten
Wirkungsgrad im Lernbereich zusammenhängen muss. Zusammengefasst kann man
festhalten, dass die Game Impact Theory von Smith (2005/2009 in Anlehnung an
Michael Porters Five Forces des Marktes) hierbei ebenso anschlussfähig ist, wie
auch die zahlreichen Überlegungen aus einer Medienperspektive zu Serious Games
(vgl. aktuellere Reader, wie Miller (Hrsg.) 2008; Annetta (Hrsg.) 2008;
Ritterfeld et al. (Hrsg.) 2009; Davidson (Hrsg.) 2008). Der Vortrag endet daher
mit einer Überleitung zu den Folgevorträgen, die den Fokus enger stellen sowie
einer Klassifizierung und Einordnung moderner Serious Games Produktionen. Etwas
salopp formuliert erhält der Buchtitel „Don´t bother me Mom – I´m Learning“ des
Serious Games Pioniers in der Forschung, Marc Prensky (2006), somit eine
vollkommen neue Bedeutung.
Anna
Hoblitz (Paderborn): Serious
Games: Status Quo der Forschung
Abstract:
Serious Games sind Spiele, die über die reine Unterhaltung
hinausgehen (Sawyer 2007: 1; Michael & Chen 2006: 21; Ritterfeld, Cody
& Vorderer 2009: 6) und die häufig ausschließlich edukativ bewertet werden.
Die Idee ist, Lern- oder Trainingsaufgaben so in die Spiele zu integrieren,
dass es Spaß macht zu spielen und nebenbei gelernt wird (vgl. de Freitas 2006:
70). Im Fokus vieler Serious Games steht die Vermittlung von Fertigkeiten und
Wissen, was eine große Nähe zu formalen Lernkontexten herstellt. Im Vergleich
versuchen einige Ansätze bewusst das Spektrum breiter zu fassen (Müller- Lietzkow
und Jabobs 2011). Das Forschungsfeld zu diesem Thema ist jung, dynamisch und
schnell wachsend, was an einer zunehmend ansteigenden Publikationsrate der
letzten Jahre offenkundig wird. Als Konsequenz der intensiven Forschung wird
nicht mehr die Möglichkeit, ob mit digitalen Spielen gelernt werden kann (vgl.
Egenfeldt-Nielsen 2006: 186), hinterfragt, sondern das „Was“ und „Wie“. Demzufolge
sind die Einflüsse, Konditionen, Effekte und das, was genau im Spiel gelernt
wird, offen. Diese Forschungsdesiderate bieten viel Raum für Spekulation, wobei
in diesem Zusammenhang vor allem zwei Ursachen anzuführen sind. Zum einen haben
die bisherigen Forschungsaktivitäten noch nicht zu einer Theoriebildung
geführt. Aktuelle Ansätze verweisen entweder auf traditionelle Lerntheorien oder
es werden vielversprechende theoretische Ansätze aufgezeigt [z. B. 36
Lernprinzipien von Gee (2007) oder die Game Impact Theory von Smith (2009)],
die noch nicht empirisch validiert sind und damit spekulativ verbleiben. Zum
anderen zeigen sich in der empirischen Überprüfung der vermuteten positiven
Potenziale Schwierigkeiten im Forschungsdesign sowie eine Zugangsproblematik:
Die Vergleichbarkeit von Studien auf Inhaltsebene ist oftmals nicht gegeben.
Zudem werden bisher fast ausschließlich formale Lern- und Lehrkontexte in den
Studien einbezogen – informelle Lernkontexte finden keine Berücksichtigung.
Ziel des Beitrages ist es die bestehenden Forschungsaktivitäten vor dem
Hintergrund der spekulativen, positiven Wirkungsannahme zu verorten
Sonja
Ganguin (Paderborn): Du
sollst spielen! Spekulationen und Fakten über den pädagogischen Einsatz von
Serious Games
Abstract:
Für das
Computerspiel lässt sich seit einiger Zeit eine neue semantische
Bedeutungsebene ausmachen: Digitale Spiele sind nicht mehr auf negative Folgen
für die Nutzer, etwa im Sinne von ›dick‹ und ›doof‹, beschränkt, sondern werden
im aktuellem Diskurs demgegenüber nun auch mit Attributen wie ›gesund‹ und
›schlau‹ assoziiert; eine ganzheitliche Perspektive auf digitale Spiele gewinnt
an Raum. Allerdings gibt es hier auch kritische Stimmen zu dieser Entwicklung,
konkret das Computerspiel für Lernzwecke zu instrumentalisieren. Hier lauten
die Schlagworte etwa „versteckte Agenda“, „Schleichbildung“ oder
„Kollateralschaden“ (Deterding 2007). Die Kritik ist durchaus berechtigt. Muss
denn jede Tätigkeit einen zielgerichteten Nutzen haben, damit man sie
anerkennt? Ist es nicht reine Spekulation, dass Spieler – oder die sogenannten
„Digital Natives“ (Prensky 2001) – durch Serious
Games lernen wollen? So laufen
doch Spiele, die für Lernzwecke eingesetzt werden, stets Gefahr, dass sie ihres
eigentümlichen Spielcharakters beraubt werden. Das Spiel zeichnet sich doch
gerade durch seine Zweckfreiheit, Freiwilligkeit und Spontaneität aus (Huizinga
1997, Callios 1960). In diesem Sinn stellt sich die Frage, ob die Spieler
überhaupt wollen, dass ihr geliebtes Spiel, das Entspannung und Erholung vom
Lern-, Arbeits- und Alltagsstress bedeutet, nun genau für diese Zwecke
beansprucht wird. Die Antworten auf diese Fragen müssen von den Lernenden und
Spielenden selbst gegeben werden, indem die Nutzerperspektive einbezogen wird
und hierzu empirische Befunde diskutiert werden, aus denen sich
medienpädagogische Konsequenzen und didaktische Maßnahmen für das spielerische digitale
Lernen ableiten lassen.
16:15 – 16:45 Kaffee & Kuchen
4
// 16:45 - 18:45 Panels
4.1
Spiel als Medium der Spekulation I: Spekulation als Element des
Spiels/Spiel
als Element der Spekulation
HZ11
Moderation: Jan-Noël Thon
Felix
Schröter (Hamburg): Zwischen Zufall und Kontrolle. Gaming
Communities und das Spekulative des Spiels
Abstract:
Das
Spekulative ist konstitutiver Faktor des Spiels: Die Ungewissheit über kurz‐ und
langfristige Folgen von Spielhandlungen macht die Herausforderung und zugleich
den Reiz des Spiels aus und motiviert die Spieler/innen, dem spekulativen
Moment des Spiels durch Planung und Strategie zu begegnen. In besonderem Maße
aber bringen digitale Spiele heute neue Aneignungsformen hervor, mit
denen die Gaming Community der Spekulation den Kampf ansagt: Online
veröffentlichte Walkthroughs präsentieren präsentieren optimale Lösungswege,
konkurrierende Strategien werden auf breiter Basis in Foren diskutiert und Mods
legen die regelhafte Tiefenstruktur der Spiele offen – alles mit dem Ziel, dem
Spiel das Spekulative auszutreiben, die Ungewissheit des Spiels zu einem
berechenbaren Risiko zu machen. Als Reaktion greifen Spieleentwickler zunehmend
auf Urformen des (Glücks‐)Spiels zurück,
nämlich die ‚Randomisierung’ von Spielelementen (z.B. von Räumen, Belohnungen
oder Herausforderungen). Das Verhältnis von Produktion und Aneignung digitaler
Spiele lässt sich somit auch als ein Ringen um das spekulative Moment der
Spiele beschreiben, das die Spielerfahrung von (Viel‐)Spieler/innen
maßgeblich bestimmt. Den Ausgangspunkt des Vortrags bildet die Frage nach der Spekulation
im Spiel und also danach, wie sich Spiele im Spannungsfeld zwischen Zufall
und Kontrolle bewegen. Am Beispiel ausgewählter Spiele soll dann gezeigt
werden, wie Spieler/innen durch spezifische Aneignungsformen dem Spiel das
Spekulative austreiben wollen, indem sie es erklärbar und berechenbar machen –
und wie Spieleentwickler dem begegnen (können).
Karin
Wenz (Maastricht): Theorycrafting. Spiel, Spekulation, Theoriebildung
Abstract:
Der
Begriff 'Theorycrafting' wurde von Spielern des Online Rollenspiels Starcraft
geprägt als deutlich wurde, dass mehr und mehr Spieler sich in Debatten über
Spielstrategien und den möglichen dem Spiel zugrundeliegenden Algorithmen
engagierten. Theorycraft ist eine Verbindung aus "Theorie(bildung)"
und "Starcraft". Die Praxis des Theorycrafting wird auch als reverse
engineering bezeichnet, da die Algorithmen der Spiele den Spielern nicht
zugänglich sind, sie dennoch Hypothesen über mögliche Variablen, die einen
Einfluss auf das Spiel haben, entwickeln und versuchen diese im Spiel zu
verifizieren. Die Praxis des Theorycrafting ist seither in allen Online
Rollenspielen, die auf dem Markt sind, von Spielern angewendet worden. Spieler
benutzen das Spiel als Laboratorium, führen eine Reihe von Experimenten unter
kontrollierten Bedingungen aus, um einen Einblick in die Spielmechanik zu
erhalten. Die Hypothesen der Spieler über die zugrundeliegenen Algorithmen
basieren auf ihren eigenen Spielerfahrungen. Aufgrund von Experimenten
versuchen sie allgemeine Regeln abzuleiten, die dann in mathematische Formeln
übertragen werden, um so Aussagen über den Effekt einer Handlung im Spiel im
Voraus machen zu können. Ein besseres Verständnis der Spielmechanik führt zu
Vorteilen im Spiel, denn der Effekt einer Handlung kann berechnet werden und
ist nicht mehr Spekulation oder gar dem Zufall überlassen. Dies führt zu einer
Austreibung des Zufallsprinzips aus dem Spiel und einer
"Verwissenschaftlichung" des Spielens. Aristoteles stellt Theoria (zu
übersetzen als Kontemplation aber auch Spekulation) der Aktion gegenüber. Der
Begriff 'Theorycrafting' verdeutlicht bereits, dass es sich bei dieser Praxis
um eine Verbindung von Spekulation und Aktion (dem crafting) handelt. Dieser
Beitrag will sowohl das Verständnis von Wissenschaft als auch von Theorie,
beleuchten, auf dem Theorycrafting basiert, die angewandten Methoden der
Spieler beschreiben und den Effekt dieser Praxis auf die Community der Spieler
diskutieren.
Britta
Neitzel (Köln): Spielen und Spekulieren – Versuch einer
(Ent)Differenzierung
Abstract:
Spiel und Spekulation sind über den
Begriff des Zockens oder die Figur des Zockers miteinander verbunden. Im
engeren Sinne ist ein Zocker ein Glücksspieler, der sich einer rational nicht
nachvollziehbaren Hoffnung auf einen Geldgewinn hingibt. Populär wurde der
Bergriff des Zockens jedoch in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der
globalen Finanzkrise. Pejorativ werden Börsenhändler und Banker nun als Zocker
bezeichnet. War ein Börsenmakler zuvor im negativsten Sinne ein Spekulant, der
sich zwar nicht auf gesicherte Erkenntnisse verlässt, aber immerhin spekuliert,
so wird ihm mit dem Rückgriff auf den Begriff „Zocker“ auch der letzte Rest von
rationaler Vorausschau abgesprochen. Kulturhistorische, populärkulturelle und
spieltheoretische Diskurse schreiben dem Zocken, dem Glücksspiel, eine
spezifische Position in der Ökonomie, Arbeitsethik, Religion und Gesellschaft
zu. In einer Auseinandersetzung mit diesen Diskursen soll die dem Zocken
zugeschriebene Bedeutung herausgestellt werden und so – quasi unter dem
Neonlicht des Casinos – ein Blick auf die Reichweite der Metapher des Zockers
in der Finanzökonomie geworfen werden. Die dem Begriff der (Ent)differenzierung
inhärente Unentschiedenheit verweist dabei schon auf die diesem Vorhaben
inhärente Problematik und Herausforderung, denn es gilt nicht, rigoros Grenzen
zu ziehen, sondern vielmehr Überschneidungen, Spannungsfelder und Ambiguitäten
zwischen Spiel und Spekulation aufzuzeigen.
Mark Butler (Potsdam): Homo Oeconomicus Ludens. Spieltheoretische Spekulationen zum Casino-Kapitalismus
Abstract:
1986 wurde der Begriff »casino capitalism« von der
britischen Politikwissenschaftlerin Susan Strange in ihrem gleichnamigen Buch
geprägt, um eine historische Wende am Ende des 20. Jahrhunderts zu markieren,
nach der spekulative Transaktionsgeschäfte für die globale Ökonomie wichtiger
wurden als die Finanzierung industrieller Wertschöpfung. Ihre Charakterisierung
des Finanzkapitalismus als Glücksspiel baute auf die Analysen von John Maynard
Keynes auf, der bereits ein halbes Jahrhundert zuvor die Börsenspekulation mit
einem Spielkasino und die Investitionsstrategien der Spekulanten mit denen von
Glücksspielern verglich. Während Finanzmärkte für Keynes eine immanente Tendenz
dazu hatten sich von der Realwirtschaft zu lösen, hat sich diese Neigung,
Strange zufolge, durch die Freigabe der Wechselkurse 1973 so wie durch die
zunehmende Deregulierung von Finanzmärkten im Zuge der Globalisierung
verstärkt. In den letzten drei Dekaden hat der Topos des Casino‐Kapitalismus
Karriere gemacht – in der Internationalen Politischen Ökonomie und im
Feuilliton, bei namhaften Ökonomen wie Paul Krugman und politischen Bewegungen
wie Attac, sowie bei so unterschiedlichen politische Figuren wie Guido
Westerwelle oder Fidel Castro. Aber ist diese Diskursfigur mehr als eine
Analogie? Lässt sich tatsächlich von einer Ludifizierung der Ökonomie am Ende
des 20. Jahrhunderts sprechen, die in die gegenwärtige Situation mündet, in der
die Virtualität der Ökonomie nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist?
Oder gründet die Spekulation von Beginn an in einer »Ökonomie des Spieltisches«
(Stäheli)? Falls das Geschehen an der Börse tatsächlich ludisch ist: Um was für
eine Art Spiel handelt es sich? Wie muss der Spielbegriff neu gefasst werden um
solchen serious play Rechnung zu tragen? Welche Einsichten bringt die
Analyse des Finanzmarktgeschehens mit dem theoretischen Rüstzeug der Ludologie?
Und durch welche Medientechnologien und ‐praktiken wird das Spiel
des Homo oeconomicus ludens konstituiert?
4.2 Medienkultur und Bildung Wissen in
und über Medien: Medienkompetenz als Spekulation
HZ 12
Moderation: Julius Othmer
Roberto
Simanowski (Basel): Medienkompetenz als nachhaltige
Spekulation
Abstract:
Versteht
man Medienkompetenz nicht nur als Nutzungs-, sondern auch und vor allem als Reflexionskompetenz,
stehen die Veränderungen, die neue Medien dem menschlichen Zusammenleben
bringen, im Zentrum der Betrachtung. Medienbildung hat in dieser Perspektive
ihren Ausgangspunkt naturgemäß dort, wo die Auswirkungen medialer Erscheinungen
profund und systematisch in sozialer, politischer, moralischer, ästhetischer, rechtlicher,
epistemologischer u.a. Hinsicht reflektiert werden. Die Ausgangsfrage ist
inhaltlich komplex und methodisch heikel angesichts einer Innovationsgeschwindigkeit
der neuen Medien, die inzwischen vieles, das vor wenigen Jahrzehnten noch als
utopisch galt, markttauglich gemacht hat. Noch unabgeschlossene und im Ergebnis
widersprüchliche empirische Forschungen machen Technikfolgenabschätzung
und Zukunftsprognosen mehr oder
weniger spekulativ. Versteht man Spekulation mit Nietzsche als „unverzichtbare
heuristische Fiktion“, ergibt sich die Frage nach der erforderlichen
Ausrichtung im vorliegenden Fall. Eine paradigmatische Antwort gibt Hans Jonas
mit seiner Studie Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische
Zivilisation, die 1979 in Reaktion auf die mehr oder weniger prognostizierbare Gefahr
der Klimakatastrophe zu einer „Heuristik der Furcht“ aufruft, die aus ethischen
und strategischen Gründen der schlechten Prognose Vorrang vor der guten gibt. Der
Vortrag untersucht, inwiefern eine solche Perspektive im Interesse der
Nachhaltigkeit nicht im ökologischen und ökonomischen, sondern im sozialen und
kulturellen Sinne auch die Vermittlung reflexiver Medienkompetenz bestimmen
sollte. Jüngste Entwicklungen innerhalb der digitalen Medien
(Datenzusammenführung aller Google-Dienste, Facebooks Timeline- Feature)
suggerieren dies hinsichtlich der Zukunft von Datenschutz und dem Recht auf Anonymität;
andere Phänomene – Slacktivismus, Daily Me, Premediation – verweisen zumindest
auf Diskussionsbedarf.
Verena
Kuni (Frankfurt/Main): „Visual Media Literacy“ - Was ist, wie
erlangt und wie vermittelt man Bildmedienkompetenz?
Abstract: -
Katja
Grashöfer (Bochum): Fundiertes Wissen - spekuliertes
Wissen. Wikipedia sei Dank?
Abstract:
Dass Wissen keine dauerhafte Konstruktion darstellt, ist
keine neue Einsicht. Die Tatsache aber, dass man der dauerhaften Konstruktion
von Wissen quasi in Echtzeit zuschauen kann, ist dagegen sehr wohl eine neue
Entwicklung. Während gedruckte Enzyklopädien in Buchform einen zumindest
vorübergehend abschlussfähigen Editionsprozess erfordern, verfügt die
Online-Enzyklopädie Wikipedia über eine prinzipiell in jedem Moment offene Epistemie.
Traditionelle Enzyklopädien stellen institutionalisierte Wissensbestände dar.
Ihnen wird der Status „fundierten Wissens“ beigemessen. Mit der
Online-Enzyklopädie Wikipedia bricht diese Verknüpfung weg. Die
Unübersehbarkeit der Vorläufigkeit allen Wissens, der Wegfall des
fachwissenschaftlichen Expertentums sowie die schier endlosen Kapazitäten
technischer wie inhaltlicher Art zur Sammlung von Artikeln sind nur die
offensichtlichsten Phänomene eines Wandels in Bezug auf den gesellschaftlichen
Umgang mit jener sozialen Vereinbarung, die unter dem Begriff „Wissen“
firmiert. Was also bedeutet „Wissen“ unter den Bedingungen eines medialen
Umfelds, das die Aufteilung in Produzent und Konsument schon lange ad acta legen
möchte? Welchen Kriterien folgt der Status eines fundierten Wissens heute? Oder
handelt es sich bei Wikipedia-Artikeln um bloße Spekulationen im Sinne einer
Wette auf die Relevanzkriterien des Prosumers?
Petra
Missomelius (Marburg): Zum Verhältnis von Medienkompetenz und
Medienbildung
Abstract: -
4.3
Techné / Mechané: Medienphilosophische Spekulationen I
HZ13
HZ13
Konzept und Moderation: Georg Christoph Tholen, Dieter Mersch
Dieter
Mersch (Potsdam): ... d’obliger à dire.
‚Ent-Mit-Teilungen’ im Netz.
Petra
Maria Meyer (Kiel): Umkehr der Kräfteverhältnisse
Georg
Christoph Tholen (Basel): Die Frage nach der Technik
Gabriele
Werner (Berlin): Alles auf Anfang?
4.4
Desorientierungen
HZ14
Moderation: Marc Siegel
Ivo
Ritzer (Mainz): Exploitation als spekulative Filmpraxis
Abstract:
Mit dem Phänomen des Exploitation-Films
will das intendierte Paper eine spezifische Form
spekulativer Filmpraxis adressieren. Zunächst bleibt
festzuhalten, dass sich jeder kommerzielle Film durch Spekulation auszeichnet.
Er spekuliert darauf, durch abwägende Exploitation konzeptioneller Modelle wie
Genre und Stardom eine möglichst große Anzahl von Zuschauern zu mobilisieren.
Somit wäre jeder kommerzielle Film auch als ein Exploitation-Film zu begreifen:
Durch marktkommunikative Prozesse wird um Aufmerksamkeit geworben und eine
bestimmte Erwartungshaltung beim Publikum geschürt. Dennoch existiert mit dem
Exploitation-Film ein transnational wirksamer Modus spekulativer Filmproduktion,
der ihn von der hegemonialen Form des sog. Mainstream-Kinos abhebt. So ist der
Exploitation-Film im engeren Sinne definiert durch ökonomisch-institutionelle Variabeln
wie unabhängige Finanzierung, minimale Budgets und alternative Vertriebswege, aber
auch ästhetische Eigenheiten, die hochgradig spekulativ operieren: epigonale
Rekurse auf populäre Filmvorbilder ebenso wie sensationalistische
Ausschlachtung tabuierter Themen. Auf diese Weise versucht der
Exploitation-Film zum einen, vom Erfolg anderer Filme zu profitieren, zum
anderen zielt er auf ein Publikum, dessen Gratifikationen von der dominanten Industrie
nicht hinreichend erfüllt werden. Beide Strategien tragen bei zum schlechten
Ruf und niedrigen symbolischen Kapital des Exploitation-Films, der außerhalb
etablierter Kriterien kultureller Legitimation zu stehen scheint. Deshalb ist
der Exploitation-Film nach langen Jahren subkultureller Aneignung inzwischen
auch ins Interesse der Medien- und Sozialwissenschaften getreten, die vor allem
unter dem Paradigma der Cultural Studies nach seinen resistenten Potentialen
fragen. Für sie lässt sich der Exploitation-Film durch ostentative
Überaffirmation kommerzieller Spekulation als tendenziell kapitalismuskritische
Praxis deuten, deren ästhetische Qualitäten wiederum eine ironisch-distanzierte
Rezeption begünstigten. Auch diese – mitunter allzu affirmative – Lesart des
Exploitation-Films soll im Rahmen des projektierten Vortrags problematisiert
werden.
Sven
Pötting (Köln): Gefangen im Labyrinth der Neun Königinnen
Abstract:
Bernardo Bertoluccis Film Die Strategie der Spinne, basiert
auf Jorge Luis Borges’ Erzählung Thema vom Helden und vom Verräter. In
der Kurzgeschichte wird exemplarisch die Möglichkeit entworfen, dass ein
angeblicher irischer Freiheitskämpfer, der im 19. Jahrhundert einen Heldentod
stirbt, zugleich der Verräter seiner selbst initiierten Revolution sein könnte.
Details seines Todes erinnern an Dramen Shakespeares. Kopiert die Geschichte
die Geschichte oder kopiert die Geschichte gar die Literatur? Diese Fragen
werden in Borges’ Text aufgeworfen. Der argentinische Autor (1899-1986)
orientiert sich bei seinem Schreibstil an filmischer Montagetechnik,
Bertoluccis Film übernimmt den Duktus von Borges’ Erzählstil.
Grenzverwischungen zwischen Fakt und Fiktion, Spiegelungen, unzuverlässige Erzählung
und eine Vielzahl von Bezügen locken den Rezipienten in ein enzyklopädisches Labyrinth,
aus dem ihm kein Ariadnefaden heraushilft. Es kommt zu keinem Ende, sondern verzweigt
sich immer mehr, vervielfältigt sich, gleicht einem Rhizom. Auf die Bedeutung
des Kinos für Jorge Luis Borges’ Poetik ist bereits des Öfteren hingewiesen
worden. Wie groß der Einfluss seines Oeuvres auf aktuell so beliebte Produktionen
mit nicht-chronologischen, multiperspektivischen und unzuverlässigen Narrationen
– so genannten forking-path narratives (David Bordwell), multiple
draft narratives (Edward Branigan), puzzle films (Warren Buckland)
oder mind-game films (Thomas Elsaesser) - ist, wurde in der Forschung
dabei bislang vernachlässigt. In meinem Vortrag möchte ich diese Lücke füllen
und das Werk des argentinischen Regisseurs Fabián Bielinsky vorstellen. Sein
Erstlingswerk La espera ist eine Borges-Adaption, die wiederum als
Palimpsest auf Detektivgeschichten sowie Film-Noir-Stoffen aufbaut. La
sonámbula, ein Hybrid aus Science-Fiction-Dystopie und Roadmovie spekuliert
mit der Imagination: „Was wäre, wenn Argentinien 1982 den Krieg um die
Falklandinseln nicht verloren hätte?“ Dieser Krieg bedeutet einerseits ein
traumatisches Ereignis in der jüngeren Geschichte des Landes, läutete
andererseits aber auch das Ende der seit 1976 regierenden Militärdiktatur ein. Bielinskys
wohl bekanntester Film Nueve reinas (Neun Königinnen, 2000) ist ein
„mindgame film“ par excellence und nimmt die (durch eine andere Art von
Spekulationen ausgelöste) Finanzkrise des Jahres 2001 vorweg, die vor fast
genau zehn Jahren zum Staatsbankrott Argentiniens führte und das Land an den
Rande des Bürgerkriegs brachte.
Jesko
Jockenhövel (Potsdam): Zwischen Kino und TV: Ökonomische
Krise(n) in den »Wendefilmen« von Dominik Graf
Abstract:
Der Kino- und TV-Regisseur Dominik Graf hat sich vor allem
als stilsicherer Genrefilmer einen Namen gemacht. Für Graf, der mit „Die
Sieger“ 1993 einen spektakulären Kinoflop, landete scheint jede Kinound auch
TV-Arbeit ein auslotender Prozess mit ungewissem Ausgang zu sein, was wo
funktioniert. Während er sich im Kinofilm eine Reihe von Freiheiten und
ungewöhnlichen Stilübungen erlauben konnte, schreckt er jedoch auch in seinen
Fernsehfilmen, auf ein aufgeschlossenes Fernsehpublikum hoffend, nicht vor
kontroversen und aktuellen Themen zurück, die häufig auf genauer
Milieurecherche basieren. In seinen beiden Fernsehfilmen „Morlock – Die
Verflechtung“ (1993) und „Eine Stadt wird erpresst“ (2007) nehmen er und seine
Autoren sich der unmittelbaren Wendesituation bzw. den Folgen der Wende für die
ostdeutsche Provinz an. Anhand der dargestellten ökonomischen Zwänge wird auf
diese Weise in die jeweilige Genrelogik mit Hilfe komplexer Milieuschilderungen
eine gesellschaftspolitische Ebene eingezogen. Wendet man Habermas Begriff der
»kritischen Lage« auf die beiden Filme an, ergibt sich für die Protagonisten
des Films – Wendeverlierer – eine Situation, die nur mit einem spekulativen
Schritt, dessen Ausgang gemäß des Wortes ungewiss ist und der letztlich in der
Kriminalität endet, gelöst werden kann. Dabei bilden sich ungewöhnliche
Solidargemeinschaften die aber aufgrund gescheiterter „Systemintegration“ und
„Sozialintegration“(Habermas, in: Faktizität und Geltung) nicht dauerhaft bestehen
können. Für die Ermittlerteams erschwert diese unübersichtlichte Lage aufgrund
der wechselnden Koalitionen innerhalb der Solidargemeinschaften ihre Arbeit.
Sie müssen sich auf das verlassen, was Ermittlerarbeit auch ist: aufs
Spekulieren. Graf und seine Autoren verknüpfen so Genrestrukturen und
ökonomische Folgen. Beide Filme nehmen die Finanzkrise und die sich anschließende
Protestbewegung insofern vorweg, weil aufgrund der nicht gelungenen Systemintegration
einer aktiven Staatsbürgerschaft Vorschub geleistet wird, die allerdings (nicht
nur in den beiden Filmen) in gewaltsamen Protest umschlägt. Die Ungewissheiten,
die hier geschildert werden, finden allerdings im Blick zurück, so in Grafs
Kinofilm „Der rote Kakadu“, ihre Auflösung und narrative Geschlossenheit.
Darauf soll abschließend als Gegenüberstellung von offener, also spekulativer,
und geschlossener Erzählform eingegangen werden.
Frederik
Lang (Frankfurt/Main): Spekulation als Instrument der Kritik –
zwei Filme über das Filmemachen von Hartmut
Bitomsky
Abstract:
Wie würde ein Film über Isaak Babel aussehen, was müsste er
zeigen? Diese Frage stellt sich Hartmut Bitomsky mit seinem Kurzfilm ISAAK
BABEL – DIE REITERARMEE. Spielszenen, die meist sofort wieder (ab)gebrochen
werden, wechseln sich ab mit dokumentarischen Aufnahmen der Drehortsuche, Lesungen
aus Babels Büchern, der Sichtung von Text-, Fotomaterialien und Filmen wie
Eisensteins BESHIN-WIESE, zu dem Babel das Drehbuch geschrieben hat. Durch das
Mittel der Spekulation, durch die Frage welche formalen und inhaltlichen
Möglichkeiten es gäbe, entsteht ein komplexes Bild von Babels Biographie,
seinem Werk und den potentiellen filmischen Herangehensweisen für solch ein
Filmprojekt. Der (angeblich) geplante Film über Babel muss gar nicht mehr
realisiert werden. In einem weiteren Film, DAS KINO UND DER WIND UND DIE
PHOTOGRAPHIE, spielt Bitomsky ebenfalls mit der rhetorischen Figur der
Spekulation, indem er nur die Durchlaufprobe für einen filmkritischen Film über
dokumentarische Filme zeigt. Dabei entsteht ein Film über das Filmemachen und
über dokumentarische Filme zugleich, aber der „eigentliche“ Film wird nie
gedreht, wird immer Spekulation bleiben. In meinem Vortrag möchte ich anhand
dieser beiden Filme von Hartmut Bitomsky der Frage nachgehen, wie die
rhetorische Figur der Spekulation im Film eingesetzt werden kann, um ein Thema aus
verschiedenen Perspektiven und auf mehreren Ebenen zu behandeln und
gleichzeitig das Filmemachen selbst mit zu reflektieren.
4.5
Die materielle Seite der Spekulation. Oder: Die STS besucht die Börse
HZ15
Moderation: Gabriele Schabacher
Thomas
Christian Bächle (Bonn): Der Algorithmus als nicht-menschlicher Spekulant
Abstract:
Einen interessanten Transfer der STS
auf die Börse als Bedeutungen produzierendes Labor bieten die Parallelen
zwischen Latours ANT und dem algorithmic trading genannten automatisierten
Computerhandel: Der Algorithmus übt hier im wörtlichen Sinne die Rolle eines
nicht-menschlichen Akteurs aus. In einem performativen wie semiotischen Sinne
ist die computerisierte Handlungsvorschrift selbstgenügsamer Simulakren
Generator und lässt die menschlichen Akteure über ihre Aktivitäten im Dunkeln.
Der Vortrag schlägt eine Algorithmus Figur im Sinne der ANT vor und illustriert
das theoretische Argument mit populären Fallbeispielen, wie etwa dem flash
crash oder die im Zusammenhang mit der Finanzkrise und der Euro Krise in
die Kritik geratenen credit default swaps.
Carsten
Ochs (Darmstadt): Über die Un/Sichtbarkeit der Skripte:
Einige methodische Probleme
medienethnographischer
Finanzmarktforschung
Abstract: -
Alexander
Zons (Konstanz): Spekulanten in Film- und Finanzmärkten
Abstract:
Der Vortrag versucht die Mechanismen
der Spekulation in den Finanzmärkten, so wie sie von der STS herausgearbeitet
worden sind, aufzuzeigen und auf die Filmindustrie anzuwenden. In
Selbstbeschreibungen der Filmindustrie dominiert der Bezug auf das Risiko, das
jegliche Unternehmung kennzeichnet – “nobody knows anything” ist die populäre
Formel. Eine Industrie, die sich auf Projektbasis perpetuiert, ist auf
besondere Weise dazu verdammt, Anleihen bei der Zukunft zu machen. Wie weit
trägt der Vergleich von Finanzmärkten und Filmindustrie? Der Fokus des Vortrags
soll auf den Formen der Kalkulation liegen, die im Anschluss an MacKenzie und
Callon als materiell und verteilt konzipiert werden.
4.6
Ziemlich sicher ungewiss. Zur Rationalität spekulativer Verfahren
HZ10
Moderation: Fabian Steinhauer
Anika
Höppner (Erfurt): Visionen. Medien der Mutmaßung
Abstract:
Was unter dem Begriff ›Spekulation‹ seit dem historischen
Empirismus dem Verdacht einer Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt ist, offenbart
aus film- und medientheoretischer Perspektive die erkenntnisgenerierende Kraft,
wie sie den spekulativen Ansichten auch in vormodernen Zeiten zugesprochen wurde.
Früher wie heute ist der epistemische Ertrag der Spekulation jedoch nicht auf
willkürliche Anordnungen zurückzuführen oder unabhängig von historischen und
medienspezifischen Rahmenbedingungen zu fassen. Stattdessen beruht spekulatives
Wissen immer schon auf je eigenen Methoden, Instrumenten und Verfahren, die es
kodieren, organisieren und seinen Status gegenüber anderen Wissensformen bestimmen.
Ausgehend von der Annahme speziell spekulativer Wissenslogiken setzen die geplanten
Beiträge spekulatives Wissen ins Verhältnis zu unterschiedlichen anderen
Aussagesystemen und Erkenntnisregimen und lassen dadurch Spezifika spekulativer
Wissensordnungen zum Vorschein kommen. Die Vorträge widmen sich diesen Fragen
in historischer, medientheoriegeschichtlicher und filmtheoretischer Hinsicht. Historisch:
Am Gegenstandsbereich der frühneuzeitlichen Visionen verdeutlicht sich, dass
Spekulation historisch nicht in eindeutiger Opposition zum Erkenntniswissen,
also nicht auf Seiten des formal unbegründeten bzw. visionären Wissens
anzusiedeln ist. Spekulation ruft hier stattdessen formalisierte Erkenntnis-
und Argumentationsverfahren auf den Plan. Medientheoriegeschichtlich:
Die Arbeiten Marshall McLuhans würdigen formal-argumentativ kaum begründete, auf
spekulative Schlussformen setzende Verfahren. Diese wissenschaftlich
ungesicherten Methoden bestimmen nicht nur die Bedingungen eines neuen
Gegenstands des Wissens, sondern bringen medientheoretische
Erkenntnisperspektiven überhaupt hervor. Filmtheoretisch: Durch
sprachliche und stimmliche Äußerungen überschreitet das Filmakustische das sichtbar
Gegebene. Inwiefern die eigenwillige, spekulative Dimension von
Voice-Over-Erzählungen auch die Theoriebildung über das Medium Film mit
spekulierenden Ausdrucksformen ansteckt, untersucht der dritte Beitrag des
Panels.
Jana
Mangold (Erfurt): Medienspekulation. Verfahren zur
Begründung einer Medientheorie
Abstract:
Dem in der Medienwissenschaft institutionalisierten Postulat
über die (philosophische) Spekulation der Medien ging wissensgeschichtlich ein
spekulatives Postulat über Medien voraus. Besonders deutlich zeigt sich dies in
den Einsetzungs- und Theoretisierungsbemühungen um eine Wissenschaft von den Medien
bei Marshall McLuhan. Mit seinem Beharren auf der Produktivität und der
Produktion eines neuen Wissens durch percepts und insights anstelle
von concepts und continuity stellte sich das
Theoriebildungsverfahren McLuhans von je her als spekulatives Unterfangen aus. Der
geplante Beitrag wendet sich den Einsichts-Logiken dieser Spekulations- und
Begründungsarbeit zu. Es sollen exemplarisch vorgeschlagene Modelle der
Beobachtung sowie verwendete Figuren der Erkenntnis in McLuhans Texten
untersucht werden, um Aussagen über den Einsatz der speculatio/theoria
am Beginn eines programmatischen Nachdenkens über Medien zu treffen.
Hierbei bieten sich Betrachtungen etwa zum Beobachtermodell von Edgar A. Poes
Malstrom-Figur, zum detektivischen Erkenntnismodell des ›Rückwärtsdenkens‹, zum
Einsichtsmodell der Metapher oder zum zirkulären Beschreibungsmodell von
Zuschauereinstellungen in McLuhans Arbeiten an. All diese Formationen fallen in
Grenzbereiche logischer Argumentation und philosophischer Theoriebildung, die
sich mit Überlegungen zu Abduktion, Rekursivität und Zirkelschlüssen näher
bestimmen lassen.
Ulrike
Hanstein (Weimar): Vom Möglichen sprechen. Ich-Stimmen
des Films
Abstract:
In seinen Überlegungen zur filmischen Enunziation weist
Christian Metz auf die ungleichen Wissenstypen hin, die mit audiovisuell
verkörperten Figuren und Formen der Voice-over-Rede gegeben sind. Hörbare
Erzählstimmen von nicht sichtbaren Figuren – so argumentiert Metz mit Marc
Vernet – ›schauen über die Schulter des Bildes hinweg‹. In diesen Fällen
entsteht eine figurenbezogene Subjektivität, die nicht (nur) einer begrenzten
audiovisuellen Wahrnehmungsperspektive entspringt. Vielmehr formen die
Fokussierung mittels der Sprache und das in ihr artikulierte Wissen ein
unsichtbares Ich aus, das den Ursprungsort der Erzählung besetzen kann. Im
Anschluss an Metz’ Deutung und Differenzierung von ›Ich-Stimmen‹ analysiert der
Beitrag stimmliche und sprachliche Selbst-Verhältnisse im Film. Besondere
Aufmerksamkeit liegt dabei auf dem spekulativen Überschuss von
Voice-over-Erzählungen, die das mit den Bildern sichtbar Gegebene
überschreiten. Dabei können in der hörbaren Rede selbst die Satzarten, das
Tempus, der Modus oder die lautlich-klanglichen Qualitäten der Stimme ein
ungewisses oder nicht begründbares Wissen markieren. Diese Äußerungen von
subjektiven Einsichten und Überzeugungen treten in wechselnde Relationen zu den
Ansichten (den deklarativen oder deskriptiven sichtbaren Bildern). In den
audiovisuellen Konfigurationen des Films können spekulative Stimmen im, neben
und vom Film sprechen. Von diesem unsicheren (und beunruhigenden) Ort
filmischer Ich-Stimmen künden auch die rhetorischen Figuren, die spekulativen
Fragesätze und die in Bewegung gehaltenen Begriffsbildungen in
filmtheoretischen Texten. Und sind diese Äußerungen nicht immer noch ein
Voice-over? Sind sie nicht sekundäre Ich- Stimmen, die dem Bild und der
filmischen Rede ›über die Schulter schauen‹, den Film rekapitulieren und
wissen, dass sie spekulieren?
4.7
Spekulative Wahrnehmung. Rezeption im
Modus des Ungefähren
NG 1.741a
Moderation: Chris Wahl
Philipp
Blum (Marburg): Von der „mocumentary“ zur
„Spekumentation“? Überlegungen zur Bedeutung der Spekulation in dokufiktionalen
Hybriden am Beispiel von Rainer Erlers DIE DELEGATION (1970)
Abstract:
Anna
Luise Kiss (Potsdam): XANADU – Spekuliere und du wirst
verstehen
Abstract:
Im Frühjahr 2011 strahlte der deutsch‐französische
Kulturkanal ARTE die achtteilige Serie XANADU aus. Sie erzählt die Geschichte
der Familie Valadine und deren Familienbetrieb „Xanadu“, einer Produktionsfirma
für anspruchsvolle Pornofilme. XANADU wurde von der französischen Presse
äußerst positiv aufgenommen. Auch in Deutschland fanden sich überwiegend
positive Kritiken zum Serienstart. Von einer grandiosen, herausragenden, vielschichtigen
und abgründigen TV‐Serie war die Rede. Kritiker sahen in XANADU
gar „die mutigste Serie, die bei ARTE je angelaufen sein dürfte“, eine
Produktion, mit der sich der Sender gleichsam neu erfinde. Was sind die Gründe
dafür, dass die Kritiker zu derart überschwänglichen Urteilen kamen? Übereinstimmend
nennen sie die Erzählstruktur als ausschlaggebend für die hohe Qualität der
Serie. Der Vortag wird anhand von Filmstills und Szenenausschnitten darlegen,
dass das erzählerische Prinzip der TV‐Produktion XANADU die
Zuschauer in die Rolle von Spekulanten versetzt. Mutmaßungen werden zunächst
dadurch angeregt, dass wir es – obgleich die Serie im engeren Sinne keine
Kriminalhandlung entwickelt – auf der narrativen Ebene mit einem klassischen
Who‐Dun‐It
zu tun haben: Die (als Ehefrau des Inhabers Alex Valadine das Firmenimage, im
Sinne des Wortes, verkörpernde) Pornodarstellerin Elise Jess verschwand vor 15
Jahren spurlos und wurde nach ergebnislos verlaufenden Ermittlungen für tot
erklärt. Wurde sie ermordet, und wenn ja von wem? Zum anderen ist der Serie das
bewusste Erzeugen von reizvollen Informationslücken immanent, die die Zuschauer
selbst interpolieren müssen: Der exzessive Einsatz von bewusst gesetzten
Unschärfen, einer oft geringen Schärfentiefe, Nah‐ und Großaufnahmen sowie
Low‐Key‐Ausleuchtung
erschafft kein realistisches Mise en image im Sinne Bazins, sondern lokale und
beliebige Räume, wie sie Deleuze definiert hat. Diese Räume müssen vom
Zuschauer durch eigene Erwartungen und Vorahnungen – rezeptiven Spekulationen –
aufgefüllt werden. Erschwert wird diese emotionale und kognitive Operation
durch den ebenso forcierten Gebrauch von Ellipsen, Flashbacks und dem Prinzip
der inneren Montage. Die erzählte Zeit wird einer einfachen Chronologie
enthoben, Details werden nicht durch Zwischenschnitte überbetont, sondern scheinbar
beiläufig exponiert und so weitere Informationslücken erzeugt. „Spekuliere und Du
wird verstehen“ ist die implizite Aufforderung der Plotelemente und ihrer dramaturgische
Anordnung.
Fernando
Ramos (Leipzig): Die Debatte über das Verbotene.
Filmkulturelle Spekulationen unter der Franco Diktatur
Abstract:
Die Szene ist jedem cinéphilen bekannt: In Gilda (Charles
Vidor USA, 1946) zieht Rita Hayworth, während sie Put The Blame On Mame singt,
ganz verführerisch ihre Handschuhe aus und wirft sie samt ihrer Kette ins
Publikum. Daraufhin wird sie unterbrochen und von der Tanzfläche begleitet. Der
Striptease ist somit zu Ende. Nicht allerdings für viele der Zuschauer unter
der Franco-Diktatur; Als der Film 1947 in Spanien präsentiert wurde, gingen
viele dieser bereits an die Zensur gewohnten Zuschauer davon aus, dass die
pikanten Bilder einer nackten Hayworth nur aus der lokalen (spanischen) Version
des Filmes weggeschnitten wurden. In den nachkommenden Monaten wurden sogar
manipulierte Aktfotos mit dem Gesicht der Schauspielerin verkauft, die die angebliche
Authentizität jenes Stripteases belegen sollten. Das Fabulieren und
Spekulieren, welche in Reaktion gegen die nationalkatholische Zensur in
Spanien entstand, ist für solche recht kreativen Versionen der Filmrezeption verantwortlich
gewesen. Diese und spätere Beispiele dieses Phänomens (z.B. in den 1960er Jahren,
als das Verbot einiger Filme des europäischen modern(istisch)en Kinos die Debatten
um diese Produktionen keineswegs hinderte) werden in diesem Vortrag diskutiert und
anhand von Texten aus der Filmfachpresse analysiert: Hauptsächlich aus den Filmzeitschriften
Film Ideal – die einer formalistischen Linie folgte – und Nuestro
Cine, die ihren Standpunkt auf ideologischen, vornehmlich marxistischen
Kriterien gründete. Dabei entpuppen sich diese Spekulationen als ein Generator
zahlreicher Diskurse in einer Filmkultur, die einerseits von internationalen
Trends abgetrennt blieb, die andererseits aber auch von dieser Isolierung
wusste und oft mit mehr Begeisterung als Geschick den Vorsprung anderer
europäischer Filmkulturen (Frankreich und Italien) einzuholen versuchte.
Dietmar
Kammerer (Marburg): Widersprüchliche
Welten. Die unmögliche Rekonstruktion
des Plots
Abstract: -
19:00
Shuttlebus nach Offenbach
20:00
Podium: Karl Marx und die Kreativen
HfG, Offenbach
Moderation: Marc Ries (Offenbach)
Andrea
Braidt (Wien)
Felix
Ensslin (Stuttgart)
Juliane
Rebentisch (Offenbach)
Hans-Ulrich
Reck (Köln)
22:00
Shuttle-Bus zum Robert Johnson (Club)
22:30
IM FEUERSCHEIN. Spekulation, Bündnis und Bezahlung. Sound und Sense mit
Monika Rinck und Benjamin Fehr
Robert Johnson
(Club), Offenbach
Estetik Verwirrt von den verschiedenen Nachrichten über die ästhetische
AntwortenLöschenSağlık Haberleri