Der Kongreß
Joseph Roth, in: Ders., Panoptikum. Gestalten
und Kulissen, München 1930.
Der Morgen versprach nichts Böses. Gegen acht Uhr begann das
gewöhnliche Lied des nachbarlichen Kanarienvogels, gegen halb neun Uhr der
lamentierende Gesang der Straßenhändler und Ausrufer, der das Aufstehen
erleichtert und auch an kalten Tagen die Vorstellung von der Ankunft des
Frühlings erzeugt. Dann wurde es still. Der Tag schöpfte Atem, eh' er begann.
Eine kurze Viertelstunde war es wieder so still wie in der Nacht zwischen drei
und vier, wenn die Laternen erlöschen und die Automobile vergessen sind, als
wären sie niemals erfunden worden. In allen Zimmern begannen diskrete
Wasserleitungen zu summen, und in der Zentralheizung klirrte es hell und auch
ein wenig geheimnisvoll (die einzige Minute im Tag, in der man sich vorstellen
könnte, daß Geister einheizen). Ein Tag sollte beginnen, ein gesunder, normaler
Tag mit einem schwarzen Kaffee in weißer Schale auf einem dunkelbraunen
Tablett, mit blanken Schuhen vor der Tür, mit einem weißen Brief im Postfach
und einem leisen Geruch von Menthol und Mundwasser, den erst die warmen
Strahlen der Mittagssonne auflösen.
Auf einmal, es mochte gegen halb zehn Uhr sein, begann der
Kongreß. Seine Mitglieder stürzten frisch von der Eisenbahn ins Haus, als
hätten sie vom Bahnhof hierher kaum einen Schritt gehabt,
als wäre in ihren Körpern die Triebkraft der Lokomotive geblieben, als hielten
sie aus einer Gewohnheit, die zwölf Stunden alt sein mochte, das stehende Haus
für einen beweglichen Zug, den man versäumen könnte. Die Ankunft der
Kongreßteilnehmer war hastig wie eine Abfahrt. Sie stürzten sich in die Zimmer
wie in Kupees. Der Vormittag erschien ihnen, da sie schon so lange wach gewesen
waren, alt wie ein Nachmittag. Sie überhörten die Stille dieser Stunde. Sie
waren zahlreich, aber sie hatten das Bedürfnis, noch zahlreicher zu sein. Es
war ihnen unmöglich, einander zu verlassen, als ob der nächtliche Aufenthalt in
einem gemeinsam benützten Waggon sie für alle Ewigkeit zusammengetan hätte. Sie
hielten die Türen der Zimmer offen, um einander nicht aus den Augen zu verlieren.
Jeden Augenblick verließ einer von ihnen sein Zimmer, weil er die Einsamkeit
nicht ertrug. Sie hatten ein bestimmtes Programm. Um elf Uhr sollten sie schon
vor einem Hauptportal 5 versammelt sein, durch das man wahrscheinlich direkt in
den Kongreß gelangte. Aber obwohl sie sich eilten, verloren sie die kostbarsten
Minuten. Immer wieder ging einer zum andern, der zweite begab sich zum dritten,
vier gingen zusammen in den Korridor, während in den leeren und offenen Zimmern
die Kleider wartend über den Stühlen hingen und das Wasser nutzlos in die
Muscheln rann und der Schaum der Rasierseife langsam verdunstete. Die
Kongreßteilnehmer standen mit baumelnden Hosenträgern, lachenden Augen,
unaufhaltsam arbeitenden Zungen, mit offenen Hemden und aufgekrempelten Ärmeln
im Korridor. Und fand sich ein Gewissenhafter unter ihnen, der ihnen den Rücken
wandte, so hielt man ihn zurück, denn auch nicht einen einzigen konnte man
entbehren.
Das dauerte so lange, bis aus einem der oberen Stockwerke
eine unerwartet helle, geschliffene Frauenstimme den Befehl gab – und es war
wie der Schnitt eines Rasiermessers: »Um halb elf alle in der Halle
versammelt!« Die Kongreßteilnehmer gingen auseinander. Sie verschwanden in
ihren Zimmern. Aber sie unterhielten sich weiter, indem sie an die Wände
klopften wie Gefangene. Wenn zwei die Verbindung hergestellt hatten, so erklang
unweigerlich die Frage: »Willy, willst du etwas Kölnisch Wasser, um dich zu
erfrischen?« Oder: »Brauchst du die Bürste für den Rock?« Und an diesen
harmlosen Fragen war nichts so empörend wie die Überflüssigkeit der Nebensätze
und die ausdrückliche Betonung des Nutzens, den man vom Kölnischen Wasser und
einer Bürste erwartete. Es war, als könnten die Kongreßteilnehmer keinen
Gegenstand nennen, ohne seinen Zweck zu erklären, und als
wären sie sonst, in ihrem gewöhnlichen Leben zu Hause unaufhörlich nicht mit
den Gegenständen beschäftigt, sondern mit den Ideen der Gegenstände. Als
existierten Bürsten, Wasser, Seife, Nagelfeilen als abstrakte Vorstellungen,
die vielleicht den Inhalt der Kongresse ausmachten, und als wäre jetzt Gefahr,
ein Kongreßteilnehmer könnte glauben, man böte ihm Kölnisch Wasser nicht zur
Erfrischung an, sondern zu einer Dissertation.
Schließlich begannen sie, die Stiegen hinunterzugleiten, um
sich laut Befehl in der Halle zu versammeln. Es waren lauter junger Leute,
Lehrer in der Blüte ihrer Jugend und Studenten mit der höchsten Zahl von
Semestern. Sie hatten eine derbe Gesundheit, aber keine ländliche, die ihnen
wohlgetan hätte, sondern eine, die man an den Rändern der Städte findet, wo der
Asphalt in Schotter überzugehen beginnt. Es war eine gewisse Unbekümmertheit
der Stadtgrenzen, die man auf Fahrrädern erreicht, eine Frische, die man einmal
wöchentlich durch Ausflüge in Gemeinschaft mit Gesinnungsgenossen erhält und
durch eine entfernte Verwandtschaft mit Förstern und Bauern, zu denen man keine
menschliche Beziehung mehr findet. Es war der Übergang von Land zu Stadt.
Joppen und Rucksäcke wären stilvoll gewesen. Aber diese braven Leute hielten
sich für vollendete Großstädter, und sie trugen infolgedessen Mäntel mit
Gürteltaille und, um anzudeuten, daß sie sich auf Reisen befinden, dunkelblaue
Baskenmützen, deren Randlosigkeit mageren Gesichtern von scharfem Schnitt
günstiger ist als vollen Wangen. Die Frauen, die zuletzt kamen, wurden mit
lärmenden Schmeicheleien empfangen. Man schrie ihnen entgegen, daß sie sich
»schön gemacht hätten«, ein Kompliment, das eigentlich verriet, daß sie nicht
schön von Natur waren. Es waren fünf Damen. Und auf Verabredung trugen sie alle
Hüte von gleichen Formen, aber verschiedenen Farben, und sie erinnerten so
weniger an Kongreß- als an Turnierteilnehmerinnen ...
Alle verließen zusammen das Hotel, überschritten in einem
Knäuel den Fahrdamm und verwickelten sich auf dem gegenüberliegenden
Bürgersteig. Als der Autobus kam, konnten sie sich nicht auseinanderknüpfen,
man hätte sie zerhauen müssen. Sie entschlossen sich, zu Fuß weiterzugehn.
Statt sich in der Ferne zu verlieren, schwollen sie zu einer immer kompakteren
Masse an. Aus andern Hotels, die in derselben Straße lagen, strömte ihnen
Verstärkung zu. Schließlich war der ganze Kongreß unterwegs.
Sie kamen am Nachmittag zurück,
entkleideten sich zum Schlummer, konnten sich aber wieder nicht trennen und
standen gähnend im Korridor. Ich hatte inzwischen in der Zeitung gelesen, daß
dieser Kongreß von einiger Wichtigkeit sei, für die Verständigung der Völker
und überhaupt. Ich überlegte sogar, ob es nicht angemessen wäre, diesen Kongreß
zu besuchen. Er scheint wirklich wichtig zu sein. Es ist gewissenlos, über
einen Kongreß zu berichten, ohne dem Leser mitzuteilen, worum es sich
eigentlich handelt. Aber schließlich begann der Kongreß in dem Maße an mir
teilzunehmen, daß ich keine Kraft mehr fand, mich zu revanchieren. Ich kann nur
hoffen, daß er befriedigende Resultate zeitigen wird.
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